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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



Startseite · Interview · Gefragt

(c) Sebastian Johannes Gotarski/Sony Classical

Hille Perl

Unter Strom

Alte Musik im Sound von Rockballaden – mit ihrem Album „Born To Be Mild“ schlägt die Star-Gambistin unerwartete Töne an. Und Genregrenzen zu überschreiten ist gerade schwer angesagt.

Alles hat mit einer Frage und der sofort nachgelieferten Antwort begonnen. „Glauben Sie, Bach dreht sich im Grabe herum?“, so Paul Hindemith einmal. „Er denkt nicht daran. Wenn Bach heute lebte, vielleicht hätte er den Shimmy erfunden oder zum mindesten in die anständige Musik aufgenommen.“ Schon in den Goldenen Zwanzigern erkannte Hindemith als erster in der Musikgeschichte, was für ein Jazz-Potenzial in der sogenannten Alten Musik und speziell in der von Johann Sebastian Bach steckt. Und prompt machte Hindemith die Probe aufs Exempel, als er eine Bach-Fuge in einem knackigen, noch nicht mal vierminütigen Ragtime für Orchester verarbeitete.
Damals rümpften die Gralshüter des abendländischen Klassik-Erbes über so eine musikalische Frechheit natürlich gehörig die Nase. Fast ein Jahrhundert später hingegen hat sich die Lage zwischen den Lagern längst tiefenentspannt. Denn mittlerweile sind es nicht nur Spezialisten aus der Alten Musik-Szene wie Christina Pluhar, die die Ostinato-Basslinien einer Passacaglia oder einer Chaconne gehörig grooven lassen. Umgekehrt entdecken auch Jazzfachleute wie der französische Tubist und passionierte Serpentspieler Michel Godard die Musik etwa eines Claudio Monteverdi für sich. Schließlich, so Monsieur, „gibt es unglaublich viele Ähnlichkeiten zwischen einem Musiker des 16., beginnenden 17. Jahrhunderts und einem Jazzmusiker von heute.“ Für Godard bildet da vor allem die Improvisation das einende Band. Zudem sind sich die für die Barockmusik typischen Ostinato-Bässe mit den jazzigen Walking-Bässen ebenfalls nicht wesenfremd.

E-Musik, wörtlich genommen

Einen etwas anderen Weg ist aber jetzt die Gamben-Flüsterin Hille Perl gegangen, um mögliche Schnittpunkte zwischen fernen Jahrhunderten und den jeweiligen Klangmoden auszumachen. Wie der an den Steppenwolf- Klassiker „Born To Be Wild“ angelehnte Titel ihres Albums „Born To Be Mild“ andeutet, flirtet Perl da immerhin mit dem Rock-Idiom. Zahlreiche Repertoire-Klassiker von „Greensleeves“ über eine „Musette“ vom französischen Gamben-Maître Marin Marais bis hin zu Stücken von Tobias Hume erklingen jetzt im Stile von instrumentalen Rockballaden. Da sorgen Hille Perl und ihre Tochter Marthe auf ihren EGamben für schillernde Wahwah-Effekte und Klangverzerrungen. Und Lee Santana, der normalerweise sein musikhistorisches Stilempfinden auf Lauten in allen Größen exzellent auszuspielen versteht, sorgt nun auch an einer E-Gitarre durchweg für zart fluoreszierende Klangflächen. Ob in der eigens komponierten „Pascals Gaillard“ oder im Arrangement von „Silence“, dieser Ode aus der Feder des legendären, 2014 verstorbenen Jazz-Bassisten Charlie Haden.
Dass sich der kleine Perl-Clan so unerwartet neu vor allem mit Klängen aus der Renaissance und dem Barock beschäftigt hat, mag den Außenstehenden überraschen. Für Hille Perl war dieser Schritt jedoch unvermeidlich: „Vor einigen Jahren hatten mein Musik- und Lebensbegleiter Lee Santana und ich nur zum Spaß eine Rockband mit ins Leben gerufen: die Dead Poets. Ein bunter Haufen Musikbegeisterter mit einem ebenso bunten Programm. Singer-Songwriter-Stücke unserer seligen Jugendtage, handfeste Rock’n Roll-Evergreens – aber auch Stücke von John Dowland und anderen Meistern der sogenannten Alten Musik. Die Dead Poets genossen in dieser Zeit einen sehr guten Ruf – und das weit über die Grenzen unseres Heimatdorfes Winkelsett hinaus. Ob in Beckeln, Harpstedt, Colnrade oder sogar in der Kreisstadt Wildeshausen – immer freute sich eine ebenso treue wie stetig wachsende Fangemeinde auf unser jährliches Konzert.“
Und mit dem Erfolg wuchs auch der Anspruch an’s Instrumentarium. „Um seinerzeit mit phonstarken Elektroklampfen und voluminösem Rockschlagwerk wetteifern zu können, legte ich mir schließlich eben jene elektroakustische Gambe zu, die nicht nur verstärkt werden konnte, sondern deren Klang ich auch durch den Einsatz elektronischer Effekte verändern konnte. Und da das Instrument nun einmal da war, dauerte es auch nicht lange und ich begann damit zu experimentieren und für mich und mein vornehmlich ja als Alte Musik kategorisiertes Repertoire neue Klangräume und -welten zu erschließen. Eine Liaison mit Folgen – an deren Ende die Idee für diese CD mit diesem Programm stand.“

Die barock-brasilianische swingin‘ Dancefloor-Oper

Raus aus den Schubladen – dieses Motto schreiben sich überhaupt immer mehr Musiker auf die Fahnen, um für sich neue Klanghorizonte zu entdecken. In diese Riege hat sich erst kürzlich wieder die bereits erwähnte Christina Pluhar eingereiht. „Music For A While” nannte sie ihre Hommage an Henry Purcell und holte dafür neben engen Musikerfreunden wie Philippe Jaroussky und dem italienischen Jazz-Klarinettisten Gianluigi Trovesi auch den österreichischen Gitarristen Wolfgang Muthspiel ins Team. „Wir wollen die erstaunliche Aktualität von Henry Purcells Musik unterstreichen, indem wir uns in den Improvisationen harmonisch und stilistisch konstant zwischen den Jahrhunderten bewegen“, so Pluhar. „Dieser musikalische Stilwechsel vollzieht sich oftmals auch im selben Stück innerhalb eines einzigen Taktes. Der Zuhörer befindet sich in einem zeitlosen Musikraum.“
Ganz in diesem Sinne hat sich gerade mit der Musik Purcells, aber auch mit Höhepunkten aus Opern von Monteverdi und Händel die Mezzosopranistin Theresa Kronthaler beschäftigt und diese mit ihren beiden Trio-Kompagnons Kalle Kalima (Gitarre) und Oliver Potratz (Kontra- und E-Bass) ins zeitgenössische Rock- und Pop-Idiom übersetzt. Passend dazu ist der Titel der Trio-CD gewählt: „The Living Loving Maid“. Immerhin heißt fast genau so auch ein Song der Rockband Led Zeppelin.
Noch passgenauer arbeiten bei ihren Genre- und Repertoiregrenzübertritten aber zwei Musiker, die aus völlig gegensätzlichen Richtungen kommen. Es sind der Jazz-Saxofonist Hugo Siegmeth und der Lautenist Axel Wolf, die auf ihrem Album „Flow“ einen erstaunlich gemeinsamen Atem unter Beweis gestellt haben. Dabei ist das Programm auf den ersten Blick mehr als nur kunterbunt geraten. Neben John Dowland und Claudio Monteverdi tauchen George Gershwin („Summertime“) und Thelonious Monk („Round Midnight“) auf. Und zwischendurch kommt es innerhalb eines Stückes gar zu scheinbar gewagten Dialogen zwischen Carlos Jobims „Desafinado“ und einer Toccata von Giovanni Girolamo Kapsberger oder zwischen einem Frescobaldi-Stück und „Budo“ von Miles Davis. Doch Hugo Siegmeth und Axel Wolf switchen nicht einfach hin und her. Sie schaffen es tatsächlich, beide Klangsphären nahezu deckungsgleich miteinander zu verschmelzen und daraus eine dritte, neue Klangwelt zu schaffen. Am Reißbrett lassen sich solche musikalischen Kernfusionen aber selten entwerfen. Manchmal hängen die bisher ungehörten und glücksspendenden Ereignisse einfach nur vom richtigen Flow ab.

Neu erschienen:

Born To Be Mild

Hille Perl, Marthe Perl, Lee Santana

dhm/Sony Classical

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Neu erschienen:

Flow – Jazz and Renaissance From Italy To Brasil

Axel Wolf, Hugo Siegmeth

Oehms/Naxos

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Erscheint Mitte April:

The Living Loving Maid

Kronthaler

Sony Classical

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Die besten Brückenschläge

Monteverdi mit Swing: Auf Christina Pluhars Album „Teatro d’amore“ gibt sich Counterboy Philippe Jaroussky in der Monteverdi-Arie „Ohimè ch’io cado“ extrem cool und swingend.

Zeitloses Gipfeltreffen: Mit ihrem Album „Timeless“ hat die auf die Alte Musik spezialisierte Lautten Compagney Berlin eine erstaunliche Nähe zwischen dem Italiener Tarquinio Merula (1595 – 1665) und dem amerikanischen Minimalisten Philip Glass ausgemacht.

Luftsäulenheilige: Die Besetzung ist mit Schalmei, Akkordeon und Countertenor schon exotisch. Trotzdem ist es dem Duo Mixtura zusammen mit Kai Wessel auf der CD „Sibylla“ gelungen, das Erbe des Renaissance- Fürsten Orlando di Lasso in den zeitgenössischen Kompositionen etwa von Karin Haußmann und Annette Schlünz sinn- und ohrenfällig zu machen.

Guido Fischer, 28.03.2015, RONDO Ausgabe 2 / 2015



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