Angezogene Kinnlade, federnde Silberlocke und hinter verschlossenen Augen versunken – so nah konnten die Besucher der Berliner Philharmonie Herbert von Karajan nur mit dem Opernglas kommen. Auf dem heimischen Sofa hatte man es da komfortabler. Als die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten ihren Kulturauftrag noch nicht auf das Berliner Silvesterkonzert und das Neujahrskonzert aus dem Wiener Musikverein reduzierten, gehörten Live-Mitschnitte mit Karajan fast zum wöchentlichen Programmangebot. Zur allerbesten Prime-Time, für die der Maestro sich dementsprechend telegen in Szene setzte. Denn wenn einer die audiovisuellen Möglichkeiten schon früh erkannte, um mit Beethovens „Pastorale“ oder Verdis „Otello“ für ordentliche TV-Quoten zu sorgen, dann war es das Massenphänomen Karajan. Zumal er bereits Anfang der 1960er Jahre auf Deutschlands kommenden Medien- Mogul Leo Kirch gestoßen war, mit dem er 1964 eine gemeinsame Produktionsfirma gründete.
„Music to watch“ lautete damals das marktstrategische Zauberwort. Und das durchaus in den kommenden Jahrzehnten, bis ins Jahr 2000 hinein und auch unter dem neuen Firmendach der „Unitel“, das halten sollte, was es versprach. In vierzig Jahren entstanden Produktionen fürs Fernsehen und später für Video, die sich unbedingt hören und sehen lassen können. Dank der Dirigenten-Elite, die von Karl Böhm bis Carlos Kleiber reicht. Und nicht zu vergessen die Instrumentalsolisten Maurizio Pollini, Artur Rubinstein und Yehudi Menuhin sowie Opernstars wie Mirella Freni, José Carreras, Plácido Domingo, Hermann Prey und Dietrich Fischer-Dieskau.
Auf immerhin 600 Stunden Laufzeit wuchs so ein prominent besetztes Spektrum an Musikfilmen an, das nach dem Zusammenbruch des Kirch-Imperiums in neuen, ordnenden Händen liegt. Der ehemalige Kirch-Geschäftsführer Jan Mojto griff Anfang 2004 bei der Konkursmasse „Unitel“ zu, und so sollen in den nächsten vier Jahren knapp 120 Produktionen auf DVD veröffentlicht werden. Schwerpunkte bilden dabei Karajan (u. a. sämtliche Beethoven-Sinfonien) sowie sein Antipode Leonard Bernstein, dessen Aufzeichnungen immerhin 20 Prozent des Gesamtkatalogs von „Unitel“ einnehmen. Der Löwenanteil gehört aber den Gesamtaufnahmen von Opern, die bis auf die Harry-Kupfer-Inszenierung des Wagner-„Rings“ von 1988 in enger Zusammenarbeit mit der Deutschen Grammophon erscheinen. Angefangen mit der im Jahr 1965 von Franco Zefirelli inszenierten „La Bohème“ über Bizets „Carmen“ (Regie: Karajan) mit Grace Bumbry bis zu Rossinis „Barbier“ – mit Claudio Abbado und in der Regie von Jean-Pierre Ponnelle.
Guido Fischer, 28.03.2015, RONDO Ausgabe 3 / 2005
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