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N° 1354
20.04. - 01.05.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Fafner auf der Pappschachtel

von Herbert Rosendorfer

Wo lässt sich der Geist eines Komponisten am besten erfassen – nur in der Musik? Wer jemals vor einem Autograf eines bewunderten Musikstücks gestanden ist, wird nachvollziehen können, dass von der originalen Handschrift, quasi vom Erspähen des Meisterwerks in nuce, ein ganz eigener Schauder ausgeht. Den Bewunderern solcher Handschriften hat Herbert Rosendorfer für RONDO eine kleine Erinnerung gewidmet – und ihren strengen Wächtern.

Es dürfte auf eine Verwirrung des Weltgeistes zurückzuführen sein, also eine Weltgeistesverwirrung, dass ich im Jahre 1964 als Assessor an die Staatsanwaltschaft Bayreuth versetzt wurde. Ich wohnte dann dort als »möblierter Herr« beim »Bauernwärtha«, einer gemütlichen altfränkischen Gaststätte, deren Wirt noch sein eigenes Bier braute: halb-dunkel, eine inzwischen untergegangene Spezialität.
Mein täglicher Weg ins Amt, in weniger als zehn Minuten zu Fuß zu bewältigen, führte mich nicht nur am Jean Paul-Denkmal vorbei, sondern auch am Richard Wagner-Archiv, das damals ziemlich beengt in einem alten Bau untergebracht war. Geleitet, nein bewacht wurde das Archiv von Gertrud Strobel. Eine gute Frau, Ehre ihrem Andenken, aber wenn irgend etwas an Richard Wagner in Frage gestellt wurde, verwandelte sie sich in eine Furie, weshalb nicht ungern Benutzer des Archivs sie mit Wagners Fafner verglichen. Und sie hütete, wie Fafner, einen Schatz.
Eines Tages nahm ich mir ein Herz und klopfte, auf dem Weg vom Amt zum Abendessen beim »Bauernwärtha«, an der Tür des Archivs. Der Drache Fafner war friedlich gesinnt, war sogar froh, schien es mir, um die willkommene Abwechslung des staubreichen Archivalltags. Gertrud Strobel, muss man wissen, war die andere Hälfte des Archivs. Sie weigerte sich, die verwahrten Sachen katalogisieren zu lassen. Es sei überflüssig, sagte sie, sie wisse alles, alles wo was stehe oder liege.
Damit verschaffte sie sich naturgemäß eine uneinnehmbare Schlüsselstellung. Und dann war sie eine ausgepichte Kennerin der Genealogie und Chronologie Wagners, die soweit reichte, ich übertreibe vielleicht ein bisschen, dass sie aus dem Gedächtnis das Geburtsdatum der Schwiegermutter des ersten »Parsifal«-Dirigenten Hermann Levi zitieren konnte. Nicht eigens zu betonen ist, dass Wagner in ihren Augen nicht der größte sondern eigentlich der einzige nennenswerte Komponist ist. Nur Bruckner ließ sie, eine Stufe darunter, gelten. Ich solle nur ja wieder kommen, sagte sie schon beim ersten Mal, und das tat ich auch. Ich bin gut im Zuhören. Gertrud Strobel erzählte: harmlose oder auch pikante Episoden und Anekdoten aus dem Leben Wagners und der Wagnerfamilie oben am »Hügel«, mit denen sie übrigens nicht auf dem besten Fuß stand. Manches interessierte mich weniger, aber ich hörte zu, und durch nichts erwirbt man mehr und leichter das Vertrauen eines Menschen, als wenn man ihm zuhört.
Das Vertrauen wurde eines Tages belohnt, als ich wieder einmal in die Staubluft des Archives, der Fafnerhöhle eintauchte. Gertrud Strobel raunte (alle raunen ja gern bei Richard Wagner), dass sie mir nun ihren Schatz zeige: Tarnhelm und Ring des Nibelungen sozusagen. Sie stieg mühsam die Wendeltreppe zu dem oberen Raum, den ich nie betreten durfte, hinauf und brachte eine große, sage und schreibe Pappschachtel mit. In der Schachtel war die in violetten Samt gebundene handschriftliche Partitur des »Siegfried-Idylls«, und außerdem, ich hielt den Atem an: das Autograf des »Parsifal«.
Sie legte mir den Band hin: »Blättern Sie nur.« Und so blätterten meine profanen, noch dazu nicht unbedingt wagnerianischen Hände in der heiligen Handschrift hin und her, schlugen den Karfreitags-Zauber auf, dann die Blumenmädchen-Szene, bewunderten Wagners so klare, saubere, wie gestochene Notenhandschrift.
»Und da sehen Sie!« und sie schlug die letzten Seiten auf, »Wagner ist nicht fertig geworden zum 23. Dezember, Cosimas Geburtstag – eigentlich der 24., aber sie feierte seltsamerweise immer am 23. – übrigens wissen Sie, dass am exakt gleichen Tag, am 24. Dezember 1837, die Kaiserin Elisabeth geboren wurde, die weltberühmte Sisi? – wurde also nicht fertig. Da, sehen Sie, er hat nur auf den paar letzten Seiten die Taktstriche gezogen, hat nur die letzte Seite voll geschrieben, damit er die Widmung drunter setzen konnte. Im Januar hat er dann die fehlenden Seiten ausgefüllt. Sie sehen es an der anderen Tintenfarbe. Und«, fügte sie hinzu, »bitte es zu bemerken, dass das Nachgetragene punktgenau mit den Taktstrichen übereinstimmt. Die Perfektion war eine der Seiten des Genies des Meisters.«
Ich wäre ein Narr, wenn ich Richard Wagners Bedeutung nicht erkennte, wenn ich leugnete, dass ihm hinreißende Szenen, welthistorische Ohrwürmer gelangen, aber der »Parsifal« ist mir immer widerstanden. Ich behaupte, dass Wagner da von sich selber abgeschrieben hat, was nicht gut gehen kann. Es ist ihm nichts mehr eingefallen außer dem »Dresdner Amen«, und das ist nicht von ihm. Dennoch schäme ich mich nicht der starken inneren Bewegung, als ich diese Handschrift in Händen halten durfte.
Aber halt. Dank der Vermittlung meines Freundes Walter Obermaier, des ehemaligen Direktors der Stadt- und Landesbibliothek Wien, durfte ich eines Tages die Handschrift des Menuetts D-Dur für Flöte und Streicher (KV 61g) von Mozart, auf der Rückseite sein Menuett in C-Dur für »Clavicembalo« in der Hand halten. Nur ein einziges Notenblatt. Ich wagte es mit ganz leichten Fingern, über die Zeilen zu streichen, die der ganz Unsterbliche, der ganz Unbegreifliche geschrieben hat. Ich sagte nichts. Ich blieb ganz still. Dann gab ich das Blatt in den Safe zurück.

Herbert Rosendorfer, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 4 / 2012



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