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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Chronik eines angekündigten Aufstiegs

Rolando Villazón

Der mexikanische Tenor Rolando Villazón singt nicht nur fabelhaft, er verfügt auch über einen exzellenten Humor. Mit dieser Mischung aus technischem Können und künstlerischem élan vital hat er sich in die Herzen des Publikums begeben. Jürgen Otten hat dies zum Anlass genommen, den Weg dieses ungewöhnlichen Künstlers nachzuzeichnen.

Natürlich erinnert er sich an diesen Augenblick. Als Luis Hernandez, der blonde Engel Mexikos, den Ball im Strafraum erhielt, zwei deutsche Spieler umkurvte und nur noch den Torwart vor sich hatte. Ein Leichtes, den Ball im Netz zu versenken, zumal für einen technisch derart versierten Ballkünstler wie ihn. Und ganz klar, Deutschlands Dampfmühlenkicker wären zu Boden gesunken, ein 0:2 hätten sie bei diesen extremen Temperaturen niemals mehr wettgemacht. Hernandez hatte das Schicksal dieser Deutschen in der Hand, besser im Fußgelenk. Und was tat er? Er überlegte. Nur eine Sekunde zu lang. Und touchierte den Ball nur leicht, eine germanische Grätsche verhinderte den weiteren Weg des Runden ins Eckige. Das Endergebnis des Achtelfinalspiels bei der Fußballweltmeisterschaft 1994 in den USA lautete 2:1. Und nicht für Mexiko.
Was soll man nun, selbst mehr als zehn Jahre später, sagen, wenn man Mexikaner ist, österreichische Vorfahren hat und auf eine deutsche Schule in Mexiko City („eine Stadt, faszinierend schön wie ein Monster“) gegangen ist? Rolando Villazón überlegt eine Weile. Dann sagt er: Man muss traurig sein als Mexikaner. Selbst wenn man die Deutschen („bei meinem ersten Besuch in diesem Land dachte ich: Sie sehen alle so aus wie meine Lehrer in Mexiko; inzwischen weiß ich, was ihre Dialektik ist: Ordnung plus Disziplin plus Rebellion“) und ihre Kultur („einzigartig“) liebt. Eben das tut er, ganz unpathetisch. Nämlich die deutsche Kultur lieben. Seine Schule, übrigens die einzige ihrer Art in dem lateinamerikanischen Land, trug den Namen Alexander von Humboldts, und der ehemalige Schüler Rolando Villazón weiß, wer das war, dieser Herr von Humboldt. Was er auch weiß, ist, wie zwei Seelen in einer Brust sich gegenseitig den Platz streitig machen können. „Ich fühlte mich als Fremder im eigenen Land, weil die Mexikaner nicht verstanden, warum ich auf eine deutsche Schule ging, und die Deutschen es ebenso wenig verstanden. Es war sehr hart.”
Heute ist er froh.Nicht nur über die Wahl der Schule. Anscheinend hat dieser lustige Bursche mit dem überschäumenden Temperament („das ist, auch wenn es wie ein Klischee anmutet, typisch für uns“) und der lautstarken Sprechstimme („es ist schön, so eine Stimme zu haben, und um die Kraft dieser Stimme zu wissen“) so ziemlich alles richtig gemacht in seinem Leben. Bislang jedenfalls. Die erste richtige Entscheidung war es, das Theater zu lieben. Dort, auf dem Theater, hat Rolando Villazón gelernt, sich elegant zu bewegen und eben nicht nur die stimmstarke Rampensau zu sein, die Sänger oft sind, leider oft auch sein müssen, weil die Regisseure der Meinung sind, sie könnten es ohnehin nicht: schauspielern. Villazón kann es, sein Don José an der Berliner Lindenoper hat das zuletzt eindrücklich bewiesen.
Aber zurück zu den richtigen Entscheidungen, die man treffen muss, um voranzukommen in diesem Leben. Die zweite richtige Entscheidung des Rolando Villazón war es, unter der Dusche zu singen, und zwar so laut wie möglich und vor allem im richtigen Augenblick. Selbiger war gegeben, als der Direktor des Performing Arts Center seiner Heimatstadt am Hause Villazón vorbeiging. Als er durch die Mauern eine mächtige Stimme hörte, klingelte er an der Haustür, vertrieb die Sorgen der Mutter, die ihren Sohn schon mäßigen wollte – und, um es kurz zu machen, sorgte dafür, dass der Frischgeduschte alsbald engagiert wurde.
Es gibt solche Geschichten. Schön sind sie immer. Doch Rolando Villazón beging nicht den Fehler, in Schönheit zu zerfließen. Er brachte Ordnung in sein Leben, lernte, nachdem er sie eigentlich gehasst hatte, die Kunstgattung Oper lieben, suchte weniger das Amüsement und Abenteuer des Alltags, sondern die richtigen Lehrer für seine Zwecke, trainierte (mit eiserner Disziplin) – und wurde stets in solchen Momenten rebellisch, wenn ihm jemand etwas antragen wollte, was ihm hätte schaden können. Und Villazón tat etwas, was ihm den Horizont, wie er bewundernd gesteht, erheblich weitete: Er hörte Platten von Plácido Domingo.
Domingo ist das Vorbild Nummer eins. Und die anderen, die Großen des 20. Jahrhunderts? Franco Corelli, ja, den mag er, Mario del Monaco auch, Carerras, Caruso und Gedda, den aber nur in bestimmten Rollen. Gleichsam olympisches Idol bleibt, da lässt er sich nicht beirren, Domingo. Und auch wenn er es nicht sagt: Dessen Weg würde er gern nachgehen. Ruhm sei nichts Ehrenrühriges, sagt Villazón. So man die Kunst nicht aus dem Auge verlieren würde. Das Repertoire ist ausbaufähig, und der zweimalige Familienvater Villazón noch einigermaßen jung mit seinen 32 Jahren. Wie er singt, was er singt, das singt er mit exzellentem Stimmsitz, einer leuchtenden Mittellage und einer auch im Dramatischen souveränen Höhe. Und da ist ja, wie so häufig, noch etwas. Das, was einem, wie es so schön heißt, in die Wiege gelegt wird. Man nennt es das Charisma; in diesem Fall das Charisma der Stimme und der Person. Rolando Villazón gebietet über beides. Für die Zukunft bleibt ihm deswegen nur eines zu wünschen: dass es ihm nicht so ergehen möge wie Luis Hernandez damals, vor dem Tor der Deutschen ...

Neu erschienen:

Gounod, Massenet

Arien

Rolando Villazón, Orchestre Philharmonique de Radio France, Evelino Pidò

EMI

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Jürgen Otten, 25.04.2015, RONDO Ausgabe 1 / 2005



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