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N° 1354
20. - 30.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Jan Brachmann (c)

Klassik

Musik ist frei!

In seiner Keynote befragte Journalist Jan Brachmann kritisch die Schwundängste der klassischen Musikkultur. Mit erstaunlichem Ergebnis.

Musikkritiker sind Berufszuhörer. Sie sollen Motive und Motivationen erkennen. Aus dem Motto dieser Konferenz Die Kunst ist frei, aber wie lange noch? höre ich Unbehagen und Verlustangst heraus. Worauf gründen sie sich? Auf Empirie oder Ideologie? Das soll uns hier beschäftigen.
[… Für den Bereich der Musikkritik] kann ich Ihnen aus eigener Erfahrung sagen: Es gibt einen Rückgang an Kritiken zur reinen Instrumentalmusik, zu Schallplatten bzw. CDs und bei den sogenannten Gedenktagsartikeln. Musikkritik im überregionalen Feuilleton heißt vorwiegend: Opernkritik. Geschrieben wird dabei weniger über Hörbares als über Sichtbares. Die eigentliche Kompetenz des Musikkritikers, Klingendes in Sprache zu verwandeln, wird dabei nur in der Schwundstufe benötigt.
Wie ist diese Dominanz der Oper zu erklären? Hat sie mehr Hörer als die Instrumentalmusik? Geht es um die Quote? Der Eindruck täuscht. Laut Statistiken des Deutschen Musik-Informationszentrums ist die Zahl der Opernbesucher in Deutschland von 2005 bis 2013 von jährlich 4,5 auf 3,9 Millionen Menschen gesunken. Laut Zukunft Publikum: Jahrbuch Kulturmanagement 2012 (transcript Verlag Bielefeld, S. 235) lag die Besucherzahl der Musiktheater noch 1991/92 bundesweit bei 7,5 Millionen Menschen. Das wäre dann ein Einbruch um 3,6 Millionen Besucher im knappen Vierteljahrhundert. Im Gegenzug stieg die Zahl der Besucher von Orchesterkonzerten zwischen 2005 und 2013 von 3,9 auf knapp 5,2 Millionen. Diese Zahlen haben zum Teil mit nachlassendem Interesse, zum Teil mit reduziertem Angebot zu tun. Im ersten Jahrzehnt nach dem Jahrhundertwechsel brach die Zahl der Opernvorstellungen um 13 Prozent ein, während die Orchester, besonders bei den Rundfunkanstalten, ihre Konzertzahlen erhöht haben. Die Instrumentalmusik zieht quantitativ an der Oper vorbei. Die Quote kann es deshalb kaum sein, was die Redaktionen zwingt, die Vielfalt des Musikalischen publizistisch auf das Genre „Oper” einzuschränken. Als Argument mag gelten, dass Opern länger im Spielplan stehen, während das Konzert immer schon vorbei ist, wenn der Text in die Zeitung kommt. Alles andere aber ist Bequemlichkeit oder Vorurteil.

Trägerschicht mit dicken Knochen

Verweilen wir noch bei der Quote. Ein Problem soll sie sein. Das Publikum klassischer Musik schwinde. Stimmt das? Schlagen wir einmal den dritten Band der Deutschen Gesellschaftsgeschichte von Hans-Ulrich Wehler auf, erschienen 1995. Da erfahren wir, dass in Preußen der Anteil des Bildungsbürgertums – also der eigentlichen Trägerschicht dessen, was wir heute mit brüchiger Emphase „autonome Kunst” nennen – um das Jahr 1850 etwa 144.000 Menschen ausmachte. Das waren 0,3 Prozent der Gesamtbevölkerung. Mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871, dem Ausbau des Beamtenwesens, dem Aufschwung der Bildungseinrichtungen stieg der Anteil des Bildungsbürgertums auf etwa 0,75 Prozent. Bei gut 39,2 Millionen Einwohnern waren das höchstens 300.000 Menschen. Sie finanzierten philharmonische Gesellschaften, Sing-Akademien, Konzertvereine, bauten Musiksäle, Konservatorien und städtische Opernhäuser. Ihr Einfluss auf das kulturelle Leben des Landes war enorm.
Und heute? Sind es weniger geworden? Nein! Der prozentuale Anteil der Erwachsenen, die regelmäßig Veranstaltungen mit klassischer Musik besuchen, hat sich seit 1871 verzehnfacht. Er liegt in Deutschland gegenwärtig bei sieben Prozent. Die Frauen überwiegen knapp. […]

Musik Macht Verlust

Woher also das Unbehagen? Ganz klar: Es geht nicht um die Quote und es geht nicht ums Geld. Es geht um Machtverlust. Nicht die Masse der Musikhörer gibt den Ausschlag für die Strahlkraft von Musik, sondern ob diese Masse tonangebend ist. Es geht um eine Bildungselite, deren Bildungsgüter ihre Attraktivität verloren haben, weil sie keine Funktion mehr in der heutigen Zeit besitzen. Funktion? Ist die autonome Kunst nicht dadurch definiert, dass sie sich von Funktionen freimacht? Ja, genau das ist ihre Legitimationsideologie. Im Emanzipationsdiskurs des Bürgertums gegen Adel und Kirche spielte diese vermeintliche Freiheit von funktionalen Bestimmungen eine große Rolle. Durch diese Verheißung von Freiheit konnten die Bürger soziales Kapital anhäufen, um ihren Herrschaftsanspruch gegen die alten Herkunftseliten als bessere Machthaber durchzusetzen. Die Kunst hatte dabei die religiöse Funktion, ein Bild vom wahren Menschen und von höchster Wirklichkeit zu entwerfen und zugleich zu verbergen, dass sie damit am ideenpolitischen Machtkampf sozialer Klassen teilhatte. „Latente Funktionen und Funktion der Latenz” nannte das ein früher Aufsatz von Niklas Luhmann. Die Kunst fällt genau hier hinein: Sie kann ihre Funktion als Legitimation bürgerlicher Herrschaft (und als soziales Distinktionsmittel) nur erfüllen, solange sie diese Funktionalität versteckt. Dabei helfen ihr die Hohepriester ihres eigenen Kults: Philosophen und Kritiker.
Jetzt aber ist diese Herrschaft durchgesetzt, der Ständestaat abgeschafft, die Kirche politisch entkräftet, und die Kunst durchläuft den gleichen Prozess wie die Offenbarungsreligionen vor ihr: Wo sie früher der Rechtfertigung von Macht diente, muss sie sich nun selbst vor den Mächtigen rechtfertigen. Für die Musik greift man dabei neuerdings auf Schlagworte der Hirnforschung und der sozialen Intelligenz zurück. Musik soll die Kinder besser in Mathe und teamfähiger machen. Aus der Nahrung für eine frei sich bildende Seele wird ein Ertüchtigungsprogramm für künftige Konjunktursubjekte. Dieser Legitimationsdruck entspringt auch der Dialektik der Demokratisierung. Je leichter der Zugang zur Musik ist, je weniger sie als soziales Statussymbol wahrgenommen wird, desto schneller verliert sie an Glanz, der Anreiz zu sozialem Aufstieg sein könnte. Dieser Glanz muss nun durch Nützlichkeit ersetzt werden.

Supermarkt der Sinnproduzenten

Das, was wir „autonome Kunst” nennen, hat den Anspruch auf Universaldeutung der Welt, auf den kategorischen Imperativ der Herzensbildung verloren. Sie muss nun ihren Regalplatz finden im Supermarkt der Freizeitgestaltungen und Sinnproduzenten. An diesem Weg ins Partikulare hat das Bildungsbürgertum selbst mitgearbeitet: Einmal, indem es in den politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts versagte, wobei sich die humanisierende Kraft der Kunst als Farce erwies; zum andern, indem es seine Machtposition oft freiwillig räumte, sich durch die ästhetische und soziale Modernisierung seine Werte wehrlos zertrümmern ließ, statt nach einer Neubestimmung ihres Sinns jenseits sozialer Distinktion und sozialer Kontrolle zu suchen (was dem Christentum heute durchaus gelungen ist). Das Bildungsbürgertum glänzte im Prozess seiner Entmachtung vor allem durch Verzicht auf Idealisierung und das Schüren von Angstlust am eigenen Untergang. „Bildungsbürger” und „museal” sind zu Denunziationsvokabeln des Feuilletons geworden. Dabei ist das Museum zuallererst eine Institution der Freiheit gewesen, die versuchte, Kunst jenseits ihrer kultischen oder politischen Verwendbarkeit zu würdigen.
All jene, die sich am Mobbing der Musealität beteiligen, Kritiker, Intendanten, Dramaturgen, Regisseure, handeln aus meiner Sicht fahrlässig. Sie wissen nicht, dass sie die Freiheit ihres Redens überhaupt erst jenen institutionellen Leistungen verdanken, die sie beschimpfen. Nur ein musealer Begriff von Kunst hat die Wiederbelebung von Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion durch Felix Mendelssohn Bartholdy ermöglicht. Und dieser museale Begriff von Kunst lässt uns den Rang eines Werkes würdigen, unabhängig davon, ob es unter freien oder unfreien Umständen entstanden ist. Nicht alle große Kunst war frei, nicht alle freie Kunst ist groß. Die Ausstellung „Art Of Two Germanys” 2009 im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg hat das wohl eindrucksvoll bewiesen. Aufgabe der Kunst sei es, öffentlich Finger in Wunden zu legen, las ich kürzlich aus Anlass der Kündigung von Sewan Latchinian beim Theater Rostock. Die Funktion von Kunst in der Gesellschaft sei Wachsamkeit, Aufrütteln und Opposition, gab der Komponist Pascal Dusapin in einem Interview zu Protokoll. Wie verträgt sich das mit der Freiheit der Kunst, wenn man ihr solche Aufgaben und Funktionen zuweist? Legen die Jeux d’eau von Maurice Ravel Finger in Wunden? Hat die Träumerei von Robert Schumann die Funktion, unsere Wachsamkeit zu schärfen? Nein! Und ein musealer Begriff von Kunst schützt sie gegen die Zumutungen politischer Benutzung, von welcher Seite auch immer.

Musik und Werbung

Diese Schutzräume der Kunst gegen den Zugriff aktueller Verwender sind aber gerade deshalb entstanden, weil das Bürgertum insgeheim wusste, dass auch seine eigene, vorgeblich freie Kunst nie gänzlich frei war. Schon im ganz praktischen Sinne: Seilschaften von Künstlern und Kritikern hat es immer gegeben. Zudem fügen sich alle, die auf Aufmerksamkeit anderer angewiesen sind (wie der Komponist auf den Hörer, der Kritiker auf den Leser), bereits in die Abhängigkeit vom fremden Ohr und fremden Blick: Sie werben um Wahrnehmung. Musik ist eine Form des sozialen Handelns. Und alles soziale Handeln lebt von
Zuwendung und Angewiesensein. […] Am Übergriff der Erwerbswelt auf das Reich der Freiheit hat die freie Kunst immer schon großen Anteil, gerade weil sie die ökonomisch befriedeten Schutzräume fester Funktionalität von Hof, Stadt und Kirche verließ und sich dem Kommerz aussetzte. Sie war nie das gute Andere zum bösen Markt, sondern stets Triebkraft jener Prozesse, deren Ergebnisse die Kunstfunktionäre heute beklagen. Zuwendung und Angewiesensein sind Grundlagen eines gesunden Dialogs. Doch Werbung gerät schnell zur Unterwerfung unter den fremden Blick. Das ist die Tendenz bei den Reader Scan Tests, denen sich die Printmedien seit einigen Jahren unterziehen. […] Wo Macht nicht mehr auf Autorität, also Kompetenz beruhen darf, beruht sie auf Mehrheiten. Wer aber Macht auf Kompetenz gründen will, steht in Gefahr, Ideologie zu betreiben. Die Freiheit der Kunst ist nicht billig zu haben. Wer sie als Ideologiekritik versteht, muss sich selber Ideologiekritik gefallen lassen. Wer sie ideologiefrei will, muss sich dem Druck empirischer Mehrheiten aussetzen. Im ersten Fall tritt er in einen Machtkampf ideologischer Positionen ein, im zweiten Fall hat er eine plurale Welt zu akzeptieren, in der Selbstachtung und Fremdrespekt zusammengehören.
Die freie Kunst war eine Gestalt der säkularen Religionsgeschichte der Moderne und durchläuft nun, wie die alten Religionen auch, einen Prozess der Entmythologisierung. In dessen Verlauf wird sie Macht einbüßen, aber nicht verschwinden – so wie die Kirchen nicht verschwunden sind und heute dort den größten Zulauf haben, wo ihr vor zweihundert Jahren die meisten Menschen wegliefen: bei jungen Familien bildungsnaher Schichten in großen Städten. Der Philosoph Gianni Vattimo erblickt in der Säkularisierung des Christentums ein Heilsgeschehen, weil sich das Evangelium nun jenseits sozialer Kontrolle entfalten kann. Wenn der Kunst eine ähnliche Zukunft beschieden sein sollte, dann steht uns ihre eigentliche Freiheit erst noch bevor. Diese Freiheit der Kunst wird keinen andern Schutz kennen und keinen andern Grund als unsere Liebe.“

Jan Brachmann hielt die für den Abdruck leicht gekürzte Keynote im Rahmen der „Heidelberg Music Conference“ des Musikfestivals Heidelberger Frühling 2015.

www.heidelberger-fruehling. de/heidelberger-fruehling/music- conference/

Rondo Redaktion, 30.05.2015, RONDO Ausgabe 3 / 2015



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