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N° 1353
13. - 23.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



Startseite · Interview · Gefragt

(c) Alex Vanhee

Jos van Immerseel

„Die Vergangenheit holt mich ein“

Seinen 70. Geburtstag feiert der belgische Dirigent und Pianist am 9. November. Mit seinem Orchester Anima Eterna Brugge revidiert er unsere Hörgewohnheiten – bis hinein ins 20. Jahrhundert.

Die belgische Stadt Brügge ist ein Touristenmagnet: Die pittoreske Altstadt mit ihren Gässchen, intakten Wallanlagen und Windmühlen ist von zahllosen Kanälen durchzogen und bietet ein nahezu geschlossenes Stadtbild mittelalterlichen Charakters. Doch es ist auch Platz für Neues im flämischen Venedig. Am Rand dieses begehbaren Schmuckkästchens der Altstadt steht einer der modernsten und schönsten Konzertsäle Europas: Das Concertgebouw Brügge, das 2002 eröffnet wurde. Es bietet einen Kammermusiksaal mit Tageslicht und einen großen Saal, dessen Akustik durch lamellenartig durchbrochene Wände je nach Bedarf regulierbar ist. Der Saal klingt äußerst transparent. Wie gemacht für Jos van Immerseels Orchester Anima Eterna Brugge, das seit 2003 dort Residenzorchester ist. Neben dieser Residenz in Brügge gibt es für van Immerseel und sein Orchester weitere Ankerpunkte: Die Dijoner Oper, an die das Orchester als Ensemble associé angeschlossen ist, und das Beethovenfest Bonn (Orchester in Residenz, 2015 – 2017).
Organisation und Management von Anima Eterna aber sitzen nach wie vor an einem historischen Ort, und zwar im „Ezelpoort“, was soviel heißt wie Eselstor und eines der uralten Stadttore von Brügge ist, ausgestattet mit einem trutzigem Turm und engen Wendeltreppen. Hier bittet Jos van Immerseel zum Interview. Am Abend zuvor hat er im Concertgebouw ein rein tschechisches Programm dirigiert: Smetanas „Moldau“, Dvořáks Sinfonie „Aus der Neuen Welt“ und Janáčeks haarige Sinfonietta. Einmal mehr hat van Immerseel bewiesen, dass ihm mit seinem Orchester immer wieder Überraschendes gelingt, dass er erneut einen besonderen Sound gefunden hat, insbesondere für die tot gespielte „Moldau“, die in seiner Interpretation wunderbar licht und mit anrührend schlichter poetischer Erzählkraft daherkommt. Das Tempo ist erstaunLelich bedächtig, für van Immerseel meint historische Aufführungspraxis nicht bloß schneller als gewohnt, wie es bei den meisten seiner Kollegen die Regel ist.

Blick zurück ins Jetzt

Das anspruchsvollste Werk des Abends aber ist Janáčeks Sinfonietta, ein Werk des 20. Jahrhunderts und damit wieder einen Schritt näher an der Gegenwart. Auf die Frage danach, wie weit van Immerseel noch gehen will, beruhigt er: „Wir machen diese Reise nur mit historischen Instrumenten! Aber was wenige wissen: Ich habe in meiner allerersten Zeit fast nur Musik des 20. Jahrhunderts gespielt! Gewissermaßen holt mich also meine Vergangenheit wieder ein. Aber nur bis dahin, wo man mit historischen Instrumenten noch weiter kommt. Für StockhausenoderMessiaenbrauchtmanmoderne Instrumente.“
Jos van Immerseel wurde 1945 in Antwerpen geboren, studierte dort Klavier, Orgel, Gesang und Dirigieren. Als Autodidakt forschte er über Orgelbau, historische Tasteninstrumente und studierte Rhetorik. Folgerichtig wandte er sich der Alten Musik zu, gründete das Collegium Musicum (1964 – 1968), mit dem er Renaissanceund Barockrepertoire erarbeitete. Seit seinem vertiefenden Cembalo-Studium bei Kenneth Gilbert ist van Immerseel weltweit als Solist unterwegs, widmet sich aber auch intensiv der Kammermusik. In der öffentlichen Wahrnehmung ist er aber vor allem Dirigent und Chef seines Orchesters Anima Eterna Brugge, das er 1987 gründete und mit dem er etliche inzwischen legendäre Einspielungen vorlegte.
Kaum ein Künstler vereint so selbstverständlich wie van Immerseel eine Solistenmit einer Dirigentenkarriere. Gefragt nach seiner Priorität, muss er nicht lange nachdenken: „Diese Frage wird mir in letzter Zeit häufiger gestellt. Wenn ich mich unter vorgehaltener Pistole entscheiden müsste: Ich fühle mich in erster Instanz als Musiker, auch wenn ich dirigiere. Wenn ich nicht mehr spielen könnte, würde mir etwas Elementares fehlen, das Spielen ist ein Teil meines Körpers.“
In Wahrheit geht van Immerseel noch weiteren Professionen nach: Als Dozent an Musikinstituten und in Meisterklassen auf der ganzen Welt, als Forscher, als Archivar. Und als Sammler von historischen Tasteninstrumenten: „Bisher sind es siebzehn. Und sie sind alle in Betrieb!“
Auf die Frage, wie er zu seinen auffallend anders klingenden, eigenwilligen Interpretationen und spezifischen Klangwelten kommt, und ob diese Eigenwilligkeit das erklärte Ziel seiner Arbeit ist, erklärt er den Prozess anhand des tschechischen Programms als einen grundsätzlich offenen: „Vor zwei Wochen hatte ich zwar eine Ahnung, wie das klingen soll, aber ich wusste es noch nicht genau. Auch für die Musiker ist das so. Es ist immer eine Überraschung, wenn man das erste Mal zusammenkommt. Die Tempi sind oft fixiert durch die Metronom-Zahlen. Das respektiere ich, soweit das realistisch ist. Man denkt ein Tempo am Schreibtisch aber immer ein bisschen schneller und in der Realität muss man es dann zurücknehmen.“

Klangforschung in Gruppenarbeit

Wie in den meisten vergleichbaren Projektorchestern sind die Musiker von Anima Eterna keine Orchestermusiker, sondern eigentlich Solisten und Kammermusiker, die sich auf historisches Instrumentarium spezialisiert haben. Die Musiker bringen also ganz selbstverständlich eine hohe Eigeninitiative mit. Wenn van Immerseel auf dem Podium steht, erscheint er nicht als Bändiger oder gar Taktstockdiktator, sondern gibt entspannt sparsame Zeichen, inspiriert eher, statt zu fordern: „Ja, da kommt sehr viel ganz von selbst. Ich muss eher moderieren und koordinieren.“
Van Immerseel hat aber nicht nur Erfahrungen mit freien Projektorchestern, die sich in wechselnden Besetzungen aus Solisten zusammensetzen. Er hat auch immer wieder bei Tariforchestern gastiert. Wie sieht er die Zukunft der sich wandelnden Orchesterlandschaft?
„Das ist schwer zu sagen: Es wächst ja in Asien auch so vieles heran, in China, Korea und in Japan sowieso. Ich erlebe, dass junge Musiker heute lange darüber nachdenken, ob sie in ein Orchester gehen, wo sie dann bis zu ihrem 65. Geburtstag am gleichen Platz sitzen. Sehr viele realisieren aber auch, dass ein Lehatben als Freelance-Musiker schwierig und risikoreich ist. Vor allem, was die private Lebensplanung angeht. Und in den institutionalisierten Orchestern – nicht so sehr in Deutschland – ist es so, dass die Festanstellungen zurückgefahren werden. Die Musiker kriegen heute nur noch Einjahres-Verträge. Diese Tendenz setzt sich zunehmend durch.“
Als er 1987 sein Orchester Anima Eterna gründete, hätte wohl niemand geahnt, dass das der Beginn einer solchen Erfolgsgeschichte sein würde. Am allerwenigsten van Immerseel selbst: „Ich wusste absolut nicht, wo es hingehen würde. Es war sehr klein am Anfang, wir haben nur mit Freunden gearbeitet. Und dann kam 1991 die Anfrage, die Mozart- Konzerte einzuspielen. Ab da ist es dann seriös geworden. Die ersten Jahre waren reine Projektarbeit.“
Jos van Immerseel bereut nichts. Er würde sich immer wieder für die Projektarbeit, das frei bestimmte Forschen und Experimentieren entscheiden: „Ja, frei arbeiten. Ich spiele nur ungefähr 50 Konzerte im Jahr, die Kammermusik mit eingerechnet. Das finde ich herrlich! So habe ich Zeit, zu studieren und andere Dinge des Lebens zu genießen. Wie kann man 300 Konzerte im Jahr spielen, wie ich es von manchen Weltklasse-Kollegen mit Erstaunen höre? Das kann ja nicht mehr interessant sein.“

Bereits erschienen:

Antonín Dvořák, Leoš Janáček

Sinfonie Nr. 9 "Aus der Neuen Welt", Sinfonietta op. 60

Jos van Immerseel, Anima Eterna Brugge

Alpha/Note 1

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Wiederveröffentlicht als Box:

Hector Berlioz, Claude Debussy, Maurice Ravel, Francis Paulenc

Orchesterwerke, Konzerte

Jos van Immerseel u.a.

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Zum Geburtstag: Schubert

Für Furore sorgte zuletzt Jos van Immerseels Einspielung von Carl Orffs „Carmina Burana“ mit seinem Orchester Anima Eterna Brugge von 2014. Im September 2015 kam die Aufnahme mit Dvořák und Janáček heraus. Und zum 70. Geburtstag selbst wird es eine Schubertiade-Box geben: vier CDs mit Schubert pur, vom „Hirt auf dem Felsen“ bis zur großen C-Dur-Sinfonie, aufgenommen im Concertgebouw Brügge im Sommer 2014. Einen Tag vor seinem Geburtstag finden am 8. November auch im Concertgebouw drei Schubert-Konzerte mit Anima Eterna und Solisten statt: Schubertiade I, „Der Hirt“ um 14 Uhr, Schubertiade II, „Die Forelle“ um 16 Uhr, und schließlich um 19 Uhr „Schubert Close-up“, ein Gesprächskonzert rund um Schuberts 9. Sinfonie.

Regine Müller, 10.10.2015, RONDO Ausgabe 5 / 2015



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