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Das Konzert am Sonntagnachmittag des 2. Juli 1944 im Philharmonic Auditorium in Los Angeles sollte Geschichte schreiben: zum einen, weil es das erste Mal war, dass Jazzmusiker die Bühne des Klassik-Tempels in L.A. betreten durften. Zum anderen, weil es den Beginn einer extrem einflussreichen und langlebigen Reihe markierte. „Jazz At The Philharmonic“, dessen erste Ausgabe von seinem umtriebigen Organisator, dem späteren Plattenfirmen- Boss Norman Granz (u. a. „Verve“), mit 300 geliehenen Dollar auf die Beine gestellt worden war, lief mit Unterbrechungen bis 1983.
Dizzy Gillespie, Charlie Parker, Ella Fitzgerald und immer wieder Oscar Peterson: So ziemlich jeder aus der Jazz-Aristokratie fand sich auf den von Granz bestellten Bühnen als Teil eines bunt zusammengewürfelten Programms wieder. „Jazz At The Philharmonic“ war aber mehr als eine kommerziell erfolgreiche Varietäten-Show des Swing und Bebop. Norman Granz ging es um die kulturelle Aufwertung einer bis dahin als Schmuddelkind betrachteten Musikform und um die Aufhebung der Rassentrennung. Jazz sollte für jedermann da sein. Auch deswegen entwickelte sich „Jazz At The Philharmonic“ zu einem internationalen Tour-Reigen mit Stationen auf der ganzen Welt.
„Norman Granz sagte: Diese Musik muss raus aus dem Keller, diese Musik muss auf die Konzertbühnen“, fasst Siggi Loch die Bedeutung der Konzertserie zusammen. Als Teenager im Nachkriegsdeutschland wurde der junge Jazzfan Loch selbst Zeuge von Granz’ grenzüberschreitender Unternehmung. Der Besuch der „Jazz At The Philharmonic“-Konzerte auf deutschem Boden hinterließ einen derart starken Eindruck bei dem Gründer des Jazzlabels ACT, dass er im Dezember 2012 eine Hommage an Granz aus der Taufe hob: Im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie fand zum ersten Mal ein Konzertabend unter dem Rubrum „Jazz At Berlin Philharmonic“ statt.
Das Zusammentreffen der Pianisten Leszek Możdżer, Michael Wollny und Iiro Rantala wurde zum Startschuss einer Reihe, die sich zu einem festen und ausgesprochen erfolgreichen Teil des Berliner Kulturlebens gemausert hat. Schon zehn Mal fand „Jazz At Berlin Philharmonic“ im Kammermusiksaal und im großen Haus des Scharoun-Baus statt; die Konzerte sind regelmäßig ausverkauft. Damit ist Kurator Loch seinem selbst gesteckten Ziel gerecht geworden: „Wir müssen die Musik dem Publikum so präsentieren, dass wir damit einen anderen und viel größeren Kreis erreichen als den, den die Musiker durch ihre Arbeit in den Clubs erreichen würden.“
„Jazz At Berlin Philharmonic“ ist dabei keine Kopie des Granzschen All-Star-Reigens, sondern eine zeitgemäße Weiterentwicklung. Denn inzwischen ist die Anwesenheit von Jazz-Musikern auf philharmonischen Bühnen längst eine Selbstverständlichkeit. Und so ist in der Berliner Philharmonie das Programm der Star. Die Zusammenstellung der in der Regel klassisch vorgeprägten Solisten, die sich naheliegender Weise – aber nicht ausschließlich – aus Mitgliedern der großen ACT-Familie rekrutieren, erfolgt nach strengen thematischen Gesichtspunkten.
Davon zeugen auch die vier CDs, die aus der Berliner Reihe entstanden sind. Da legt etwa „Norwegian Woods“ die Volksund Kammermusik-Quellen des norwegischen Jazz offen, rückt die „Accordion Night“ mit überraschenden Duo-Konstellationen (etwa im Zusammenspiel des französisch-vietnamesischen EGitarristen Nguyên Lê und dem aus Madagaskar stammenden Akkordeonisten Régis Gizavo) das Schifferklavier in einen europäischen Kunstmusik-Zusammenhang oder lässt der polnische Pianist Leszek Możdżer gemeinsam mit seinen Landsleuten vom Atom String Quartet sowie Freunden aus Schweden und Israel peu à peu die Grenzen zwischen Chopin und der Weltmusik zerfließen.
Auch die kommende Konzertsaison von „Jazz At Berlin Philharmonic“ verspricht wieder einige überraschende Querverbindungen zwischen den musikalischen Welten. So begibt sich der Posaunist und Sänger Nils Landgren am 19. Januar 2016 zusammen mit dem Arrangeur Vince Mendoza und Mitgliedern der Berliner Philharmoniker auf die Spuren von Leonard Bernstein; für den 8. März ist ein Abend mit „Celtic Roots“ angekündigt. Am 31. Mai schließt sich dann ein Kreis: Leszek Możdżer, Michael Wollny und Iiro Rantala treffen sich erneut, wie zur Premiere von „Jazz At Berlin Philharmonic“ im Jahr 2012, zum „Piano Summit“.
ACT-Vorzeigekünstler Michael Wollny, der gerade seine neue CD „Nachtfahrten“ (s. Kasten) herausgebracht hat, freut sich darauf. Eine „Gefühlsmischung aus Ehrfurcht und Begeisterung“ habe der Auftritt vor drei Jahren bei ihm ausgelöst. „Die Berliner Philharmonie hat eine Architektur, die Musik ermöglicht, wie es nur ganz wenige andere Häuser schaffen“, sagt der Pianist. Inmitten des Publikums zu musizieren, das um einen herum sitze, so weit wie man nach oben schauen könne – das sei eine atmosphärisch einmalige Sache. Dennoch will der Pianist die Auftritte in Clubs nicht missen, „die werden immer die Keimzelle für neue Ideen bleiben.“ So oder so ist Wollny aber überzeugt: „Es ist super, wenn sich der Jazz jegliche Art von Raum erobert und sich das Publikum dafür öffnet.“
ACT/Edel
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