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N° 1353
13. - 23.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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(c) Mats Bäcker/Sony

Martin Fröst

Wurzelbehandlung

Er könnte auf ewig Mozarts Konzert-Evergreen spielen. Will der Klarinettist aber nicht. Deshalb geht er mit seinem neuen Album zu den Ursprüngen.

Keine Namenswitze! Aber dieser gar nicht so kühle Blonde aus dem hohen Norden heizt seinen Hörern ganz gehörig ein. Und das nicht erst seit gestern. Klarinettenväterchen Frost alias Martin Fröst ist schon ziemlich lange im Blasgeschäft. Und er hat längst schon die Rohrblattpfade der Konvention verlassen. Dass er jetzt, nach einer gefühlten Exklusivvertrags-Ewigkeit bei dem kleinen, aber feinen skandinavischen Boutique-Label BIS neu beim Branchen- Global-Player Sony angeheuert hat und dort gleich mit seiner ersten Crossover-CD startet, ist also Zufall. Macht ihn aber für eine weit größere Gemeinde als nur für die Kammermusikspezialisten interessant.
Und auch für ihn selbst sind diese nun schon seit ein paar Jahren in schöner schwe discher Tradition stehenden Auftritte wie ein reinigendes Repertoire-Gewitter: „Ich habe eigentlich so gut wie alles gespielt, was für die Klarinette recht und gut ist. Spätestens als ich das Klarinettenkonzert von Mozart – neben Webers Solowerken halt die ewige Visitenkarte, aber auch die Altersversicherung meiner Zunft – zum zweiten Mal aufgenommen habe, war mit klar, es muss auch noch etwas anderes kommen. Ich stellte mir immer vor, ich bin 85 Jahre alt und nicht sehr stolz, dass ich 1500 Auftritte mit Carl Maria von Webers Klarinettenkonzert absolviert habe. Eine Horrorvision! Also hab ich mir Gedanken gemacht und mich nach zwanzig Jahren ein wenig auf die wilde side eingelassen.“
Daraus entstanden ist jetzt „Roots“, als bereits zweites wirklich großformatiges Spezialprogramm, aber als erstes, das nun auch in Ton und Bild festgehalten wurde. Eine Art Gang nicht nur zu den Klarinettenmüttern, sondern zu den Ursprüngen der Musik, als ziemlich multikulturelles Ein-Mann-Gesamtkunstwerk aus Musik, Talk und Tanz, Licht und Klangeffekten. Bei der gleich zweimal gespieltem Live-Premiere im atmosphärisch jugendstiligem Stockholmer Konserthus, wo jeden 11. Dezember auch die Nobelpreise verliehen werden, tobte der ausverkaufte Saal. Zu erleben war nämlich ein spillerig blonder Klarinettensolist als intelligenter, nicht nur Charlie Chaplin nonchalant zitierender Entertainer, clever, klug, charmant und sehr, sehr gut wie auch gewitzt auf seinem Instrument.

Mönche und Narren

Kühn schlug der aus der Dunkelheit auftauchende Martin Fröst in kragenlos blauer Nehru- Jacke auf dem Podium herumtänzelnd den Bogen von altgriechischen Hymnen, vermischt mit Hildegard von Bingen, hin zu Telemanns Barockgeschunkel und Klezmer-Klängen. Das Royal Stockholm Philharmonic Orchestra, von ihm selbst auch noch dirigiert, lieferte die große, aber niemals nur im Hintergrund schillernde Backgroundfolie. Aber auch ein begeisternder Kinderchor und ein weiteres Klarinettentrio waren mit von der multiklanglichen Konzertpartie, in welche viel anmachende Folklore, Tango und andere Tänze verwoben waren. Aber durch die das Publikum auch begeistert diverse größere Happen von Witold Lutosławski und Olivier Messiaen genossen hat.
„Die fehlen aber auf der CD“, stellt Martin Fröst gleich klar, „denn erstens ist das Projekt ein work in progress und zweitens gibt es mehrere Varianten davon, mal mit Kammerorchester, mal mit nur sieben Spielern, aber auch in unterschiedlicher Länge. So kann es auf jede Konzertsaal- oder Toursituation zugeschnitten werden.“ Schwedische Pragmatik, ganz klar, auch von anderen Unternehmungen dieses Landes bekannt. „Ich wollte hier ein wenig Genesis veranstalten, etwas über die Herkunft von Musik erzählen, aber auch über überraschende Gemeinsamkeiten. Deshalb lasse ich die Werke, anders als in einer klassischen Konzertsituation mit ihrer vorhersehbaren Abfolge, ineinanderfließen und sich kontrastieren. Man ist dann so oft erstaunt über die unterschiedliche Herkunft von Musik. Interessant finde ich auch die Übergänge zwischen dem Heiligen und dem Profanen: etwa Gregorianischer Gesang der Mönche, der parallel zur Musik und den Spottversen der Narren entwickelt wurde, die auf den Klostermauern thronten.“

Die Erfindung der Musik

Geboren wurde Martin Fröst 1970 in Sundsvall. Mit sechs Jahren begann er Geige zu spielen, fand zu dieser Zeit allerdings Fuß- und Basketball weitaus interessanter. Mit neun wechselte er zur Klarinette, die dann sein Instrument wurde – für das er zur intensiveren Beschäftigung sogar mit 15 Jahren zum Studium nach Stockholm, dann auch noch nach Hannover zog. Heute gilt Fröst international als einer der besten Solisten auf seinem Instrument. Wovon seine weltweiten Auftritte, aber auch seine CDs mit Mozarts, Nielsens, Ahos und Webers Klarinettenkonzerten, Werken von Hindemith, Copland und Arnold sowie Kammermusik mit dem Pianisten Roland Pöntinen zeugen.
2006 – 09 war Martin Fröst Künstler der Reihe „Junge Wilde“ am Konzerthaus Dortmund, 2014 wurde er mit dem Léonie- Sonning-Musikpreis ausgezeichnet. Regelmäßig konzertiert er mit Künstlern wie Sol Gabetta, Janine Jansen, Yuja Wang, Leif Ove Andsnes, Maxim Rysanov und Antoine Tamestit. Und längst schon reicht es ihm nicht mehr, nur für seine „exorbitante Virtuosität und Musikalität“ („New York Times“) gefeiert zu werden. Was 2013 in dem ersten abendfüllend die Genregrenzen sprengenden Projekt „Dollshouse“ manifest wurde. „Damals ging es mir besonders um Kommunikation – mit dem Publikum, aber auch mit meinen Musikern. Und ,Roots‘ ist jetzt für mich die folgerichtige Fortsetzung: die Entstehung und Entwicklung von Tanz- und Folkloremusik, von Musik als heiligem Lobpreisritual sowie von Unterhaltungsmusik.“

Neu erschienen:

Hildegard von Bingen, Georg Philipp Telemann, Robert Schumann u.a.

Roots

Martin Fröst u.a.

Sony

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Professionell spielsüchtig

Er hat auch jenseits von „Roots“ schon viel ausprobiert. So hat Martin Fröst für sein BIS-heriges schwedisches Label als „Close UPs“ Musik für Klarinette und Schlagzeug zusammengespannt. Er hat ebenso die Klangwelten von Schumann und Brahms ausgeschritten – und das längst nicht nur mit Originalwerken für sein Instrument. Auf „Dances for a Black Pipe“ hat er Coplands Klarinettenkonzert mit Musik von Lutosławski, Anders Hillborg und Piazzolla gekoppelt, auf „Fröst & Friends“ gibt es in Zugaben und Transkriptionen vom „Ave Maria“ bis zum „Hummelflug“ Sopran und Cello im Beipack. Er hat Opernarien und die Benny Goodman gewidmeten Werke gespielt – und sogar „French Beauties & Swedish Beasts“ zum Klingen gebracht.

Matthias Siehler, 06.02.2016, RONDO Ausgabe 1 / 2016



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