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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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(c) Julia Wesely

Elisabeth Leonskaja

Schubert von Welt

Der Pianistin gelingt eine Schubert-Offenbarung. Ihr CD-Set, eine Lebenssumme, ist so reich bebildert wie ein Familienalbum.

Manche Künstler werden im Alter immer besser. Elisabeth Leonskaja, mit ihren hier vorgelegten acht späten Schubert-Sonaten, setzt sich so überraschend und überwältigend souverän an die Spitze der Werk-Diskografie der letzten Jahrzehnte, dass man sich ungläubig die Augen reibt und fragt: Wie hat man diese Pianistin nur so lange (halb) übersehen können?!
Sie war immer da. Und stellte sich gern in den Schatten – zuerst ihres Mannes Oleg Kagan (der später die Cellistin Natalia Gutman heiratete). Danach betreute und begleitete sie jahrelang ihren Förderer und guten Freund Svjatoslav Richter, den sie als Kammermusikpartner ihres Mannes kennengelernt hatte (auf DVD beigegeben ist ein gemeinsames Konzert mit Richter, Moskau 1993). So gewöhnte man sich an „die Leonskaja“ – und nahm sie nicht ernst genug.
Und nun das. Kaum jemand hat das Numinose, metaphysisch Leichte, den ‚Heurigen- Mystiker’ in Schubert je so ingeniös getroffen wie sie. Die Aufnahmen haben ‚das gewisse Etwas’. Und wenn man Elisabeth Leonskaja im Wiener Musikverein trifft und sie fragt, was denn dieses gewisse Etwas wohl sein möge, so zuckt sie ratlos mit den Achseln und sagt: „Ist halt viel Arbeit.“ Sie habe nicht locker gelassen und weiter gewerkelt. „Viel herumgetan“, wie sie in unnachahmlichem Russen-Wienerisch sagt. Sie strahlt dabei.
Seit 1978 lebt die geborene Georgierin in Wien – in der Nähe des Unteren Belvedere. Geboren am 23. November 1945 in Tiflis, gab sie mit elf Jahren ihr Debüt mit Beethovens Klavierkonzert Nr. 3. Die Eltern waren vor den jüdischen Pogromen aus Odessa geflüchtet. Die erste Frau des Vaters war im Konzentrationslager ermordet worden. In den Jahren nach Kriegsende muss „Lisa“, wie Leonskaja bis heute gerufen wird, so etwas wie der musische Sonnenschein in einer musikaffinen, aber kargen Welt des Kalten Krieges gewesen sein.
Mit sieben Jahren kam sie auf die Musikschule, mit 14 aufs Musik-Gymnasium. „Wunderkind klingt zwar sehr schön“, so wird sie in dem opulent als Fotoalbum ausgestatteten CDBuch (in LP-Größe) zitiert; „aber der Weg vom Wunderkind zum Genie ist doch sehr weit.“ Ihre Lehrerin war „typisch russische Klavierschule“. Das bedeutet: sechs Stunden üben täglich. „Die russische Schule ist heute noch fast intakt“, so Leonskaja im Gespräch. „Denn die Lehrer sind vielfach dieselben geblieben.“ Bei ihr persönlich sei das russische Erbteil inzwischen vermutlich herausgewaschen und verblasst. „Ich bin zu lange fort.“ Übrigens: „Akademisch“ sei die russische Schule vielleicht auch. Etwas trocken, wenn man nicht aufpasse.

Ausreiseverbot für ein Mittagessen

1964 lernte sie in Bukarest Oleg Kagan kennen, den Lieblingsschüler von David Oistrach. Und gewann den Enescu-Wettbewerb – mit Khatchaturian und Rubinstein in der Jury. Ihr neuer Lehrer Jakob Milstein riet ihr, nach Moskau zu kommen. Sie blieb sieben Jahre. Der Bruch kam, als sie 1969 bei einem Finnland-Gastspiel mit Kagan (die beiden hatten 1968 geheiratet) für ein Mittagessen nach Schweden fuhren. Fünf Jahre Ausreiseverbot. Danach trennte sich das Paar. Leonskaja verließ die UdSSR. Und blieb in Wien hängen – „bin aber keine Wienerin geworden“.
Zahllose schöne Fotos in dem großformatigen Set zeigen die blutjunge Leonskaja an der Seite der noch jüngeren Mitsuko Uchida, gemeinsam mit Emil Gilels, Marguerite Long und natürlich immer wieder mit Richter. Eigentlich ähnelt sie da mehr französischen Schauspielerinnen wie Juliette Binoche oder Françoise Dorléac (der Schwester von Catherine Deneuve). Ein Luxus-CD-Band von selten liebevoller Aufmachung! Aber: „Ich schaue mir das noch nicht an“, flüstert Elisabeth Leonskaja. „Das bringt mir zu viele schwere Erinnerungen wieder herauf.“
Gehen wir der Sache musikalisch auf den Grund! – und verraten ein Paar Geheimnisse. Warum fließt die Musik bei Leonskajas Schubert so herrlich selbstverständlich und ohne banal zu werden dahin? Antwort: „Man muss im Takt spielen!“, so Leonskaja, „das ist alles andere als eine Trivialität.“ Es komme darauf an, bei allen Freiheiten, die man sich nehmen müsse, den „Puls“ der Musik nicht zu verlieren. Auch bei Mozart sei das entscheidend wichtig. „Wie lange habe ich daran herumgedoktert!“ Auch beim Hören sei das Im-Takt-Bleiben der Grund für das Hineingezogenwerden in die Musik. „Wenn ich mich selbst vergesse, dann ist es überzeugend.“
Warum hat Schubert bei Leonskaja eine so unverwechselbare, von Schumann himmelweit entfernte Handschrift? – „Schubert spreizt die Harmonien“, so Leonskaja. „Da hinein müssen die Emotionen.“ Und: „Bei Schumann ist vieles Träumerei, bei Schubert Gedanke.“ Schubert bleibe, was immer er komponiere, ein Textvertoner. „Nicht zufällig hat er mit Brille geschlafen.“ Voll von romantischem Gefühl – „aber bei klassischer Struktur.“ Übrigens sei dies auch der Unterschied zu Chopin. „Chopin war Pedant.“ Offener in der Harmonie. Leichter zu bewältigen für den Pianisten. Mit diesem Schubert-Set, eigentlich eine Offenbarung, ist die Welt um eine Weltklasse-Pianistin reicher.

Neu erschienen:

Franz Schubert, Mozart/Grieg

Late Piano Sonatas u.a.

Elisabeth Leonskaja, Svjatoslav Richter

eaSonus/harmonia mundi

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Schubertiade

Als Katalog-Klassiker bei Schubert-Sonaten gelten die Gesamtaufnahmen von Alfred Brendel und András Schiff. Übertroffen werden sie noch immer von der pionierhaften Eroberung durch Wilhelm Kempff (7 CDs, DG, 1964 – 1969). Mit den späten Sonaten beschäftigte sich zuletzt Daniel Barenboim (DG), davor Radu Lupu (Decca), auf Einzel-CDs auch Mitsuko Uchida (Decca), Paul Lewis (harmonia mundi), Arcadi Volodos (Sony), Maria João Pires (Erato) und Andreas Staier (hm). Epochal: Claudio Arrau und Clifford Curzon. Die zahllosen Einzelaufnahmen von Svjatoslav Richter gibt es nirgendwo gesammelt. Nicht übel: die Live-Box bei Melodiya (4 CDs, 1978/79). Besser die Studioaufnahmen in „Richter – Complete Decca, Philips & DG Recordings“.

Robert Fraunholzer, 23.04.2016, RONDO Ausgabe 2 / 2016



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