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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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(c) Ryan Anderson/Sony

Branford Marsalis

Die guten Musiker machen Pop

Branford Marsalis sitzt im Besprechungszimmer der Berliner Zentrale von Sony Classical, entspannt, gelassen, eher amüsiert über die Rituale des Interview-Defilees. Die Platte „Upward Spiral“, die er promoten soll, ist noch nicht erschienen. Wohl aber hat die Plattenfirma einen Rough Mix als Download bereitgestellt, damit die Journalisten wissen, worüber sie mit ihm reden können: ein im Jazz eher ungewöhnliches Vorgehen.
„Upward Spiral“ heißt das Werk, innerhalb von drei Tagen mit dem Sänger Kurt Elling im Studio des Ellis Marsalis Center for Music eingespielt. Schmucklos, schnörkellos. Gut. Und anders als die berühmteste Co-Produktion eines Jazzsaxofonisten mit einem Sänger, John Coltranes grandiose Einspielung mit Johnny Hartman. „Das hatte ich nur bei ‚Blue Gardenia‘ im Hinterkopf“, sagt er. „Die Songs von Hartman und Coltrane landen alle auf demselben Punkt: Johnny singt, und die Band unterstützt ihn. Das wollte ich nicht die ganze Zeit.“
Im Gegensatz dazu schöpfte das Branford Marsalis Quartet aus der Vielfalt der Möglichkeiten, trat in den Vordergrund, nahm den Sänger wie ein fünftes Mitglied auf. Über das Gedicht „Momma Said“ improvisieren sie sogar völlig frei. „Haben Sie gemerkt, wie wir an einer Stelle ‚Yesterday‘ der Beatles zitieren?“, fragt Marsalis schelmisch.
Jazz und Pop. Dieses Thema treibt den Spross der Marsalis-Dynastie aus New Orleans um – immerhin spielte er viereinhalb Jahre in der Band des britischen Rocksängers Sting. Marsalis’ Vater: einer der besten Musiklehrer der Stadt. Der Bruder Wynton: jahrzehntelang der bekannteste Trompeter der jüngeren Jazz-Generation, der durch sein Bekenntnis zur swingenden Tradition des Jazz polarisierte. Zwei weitere Brüder, Delfeayo und Jason, wurden als Produzent und Posaunist beziehungsweise als Schlagzeuger ebenfalls jenseits der Grenzen der Stadt bekannt.
Die Journalisten, mokiert sich Branford, bastelten daraus eine Marsalis-Familie, die abends nach dem Abendessen im Wohnzimmer jammt. Weit gefehlt. „Okay, Wynton und ich sind zusammen aufgewachsen. Wir haben im gleichen Zimmer gewohnt. Delfeayo ist fünf Jahre jünger als ich. Wenn Sie Geschwister haben, dann wissen Sie: Wenn Sie fünfzehn sind, wollen sie mit einem Zehnjährigen nichts zu tun haben. Und Jason wurde in meinem Junior Year in der High School geboren. Als er laufen lernte, war ich schon ausgezogen.“
Das Album mit Kurt Elling war schon jahrelang geplant – nur fehlte die Zeit, es zu realisieren. „Ich habe viele Sänger angehört“, sagt Marsalis. „Kurt war der einzige, mit dem man ein rockiges Stück spielen konnte und der für jedes Stück die passende Raffinesse mitbringt, die deren Melodien verlangen. Ich kenne keinen, dessen Stimme so beweglich und anpassungsfähig ist.“
Sie trafen sich, sie probten, sie sprachen das Repertoire ab, spielten einen Teil am Wochenende vor der Aufnahme im Club „Snug Harbour“, und im Studio saßen die meisten Stücke spätestens nach dem dritten Take. Korrigiert wurde wenig. Es sollte ein Jazzalbum bleiben, und die wurden schon in den 1950ern so pur wie möglich eingespielt.

RONDO: Sie haben zwischen 1994 und 2003 drei Versionen von John Coltranes Album „A Love Supreme“ veröffentlicht. Was bedeutet Ihnen das Original?

Branford Marsalis: Heute nicht mehr viel. Damals schon. Ich habe gelernt, wie man so etwas macht. Danach war das erledigt. Es gibt viele andere Songs, die man benutzt, um als Musiker besser zu werden. Wenn man das hinter sich hat, sagt man „Danke“ und geht weiter. Damit keine Missverständnisse aufkommen: „A Love Supreme“ ist eines der großartigsten Stücke im Jazz, das je geschrieben wurde. John Coltrane ist für seine Komplexität bekannt. Aber an der Form von „A Love Supreme“ ist nichts komplex. Der erste Satz basiert auf einem Akkord, der zweite und dritte sind ein Blues und der vierte fußt wieder auf einem Akkord. Komplex wird das erst durch die Intensität des Spiels und das Wissen, das Coltrane und seine Band aus anderen Songs erworben hatten.

RONDO: Wie soll ich das verstehen?

Marsalis: Coltrane lernte, wie man den Blues spielt. Er begann in einer Rhythm & Blues-Band. Sie können das auf einer Aufnahme von 1954 mit der Band von Johnny Hodges hören. Wenn ich sie jungen Musikern vorspiele, will es keiner glauben. An den Hochschulen schreiben sich die Kids die Akkorde von ‚Giant Steps‘ raus. Aber was sie spielen, klingt nie wie ‚Giant Steps‘. Da fehlt die Seele, der Blues.“

RONDO: Das Transkribieren zählt doch zum normalen Jazzstudium …

Marsalis: Bei mir war es auch nicht anders. Auch ich habe viel transkribiert. Irgendwann hat Art Blakey zu mir gesagt: „Du hörst nur den Typen, wie du ihn magst. Du hörst nie, wer ihn beeinflusst hat. Dort solltest du hingehen. Was meinst du, was Coltrane mit neunzehn gemacht hat? Er hat ganz sicher nicht die Bänder analysiert, die er mit vierunddreißig Jahren aufgenommen hat.“ Er hatte Recht. Bei allen großen Musikern können Sie erkennen, wen sie studiert und von wem sie gestohlen haben. Aber die Geschichtsschreibung will, dass sie plötzlich als fertige Genies da waren.

RONDO: Coltrane ist einer der Saxofon-Giganten. Können Sie zehn nennen, die Ihnen wichtig sind?

Marsalis: Natürlich. Sidney Bechet, Johnny Hodges, Coleman Hawkins, Charlie Parker, John Coltrane, Sonny Rollins, Warne Marsh, Wayne Shorter, Ornette Coleman, Lester Young.

RONDO: Keiner von heute?

Marsalis: Nein. Es gibt großartige Saxofonisten, aber wenig gute Musiker. Wir haben immer mehr Leute, die großartige Instrumentalisten sind. Die wirklich guten spielen populäre Musik, denn da ist mehr Geld drin. Vor vierzig Jahren wären diese Leute Jazzmusiker geworden. Jetzt nicht mehr.

RONDO: Was meinen Sie mit „guter“ Musik?

Marsalis: Musik hat die Fähigkeit, einen Menschen zu berühren. Großartiges Saxofonspiel bewegt Saxofonisten. Normale Leute werden von großartigem Saxofonspiel nicht im Geringsten beeindruckt, denn sie wissen nicht, was handwerklich hinter einem Stück steht, und es interessiert sie auch nicht. Die Leute hören Beethoven und sie haben nie die Partitur gelesen. Oder Mahler. Und mögen die Musik, ohne zu wissen, wie sie funktioniert. Und dann gibt es Musiker, die sagen: Das Publikum muss sich besser auskennen, um mich zu verstehen. Auf welchem Planeten leben die? Ich kenne keinen Planeten, auf dem Leute sagen: Ich nehme Musikunterricht, um einen Typen besser zu verstehen.

RONDO: Wenn man Sie hört, könnte man fast meinen, Jazz sei eine sterbende Musik …

Marsalis: Überhaupt nicht. Mit dem Jazz ist es wie bei der Dichtkunst. Die stirbt auch nicht. Viele Deutsche wissen nicht, wer Schiller ist. Das heißt aber nicht, dass Schiller tot ist. Es gibt ganz einfach Leute, die ihn kennen. Wer ihn nicht kennt, der kennt ihn eben nicht.

Erscheint Anfang Juni:

Upward Spiral

Branford Marsalis Quartet, Kurt Elling

Okeh/Sony

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Werner Stiefele, 28.05.2016, RONDO Ausgabe 3 / 2016



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