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N° 1353
13. - 23.04.2024

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am 20.04.2024



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(c) Holger Schneider

Gaechinger Cantorey

Zurück in die Zukunft

Die berühmte Gächinger Kantorei ist Geschichte. Ab sofort gibt in Stuttgart die Gaechinger Cantorey den Ton an – in bester historischer Aufführungspraxis.

Alle waren sie in der Stuttgarter Bachakademie ziemlich aufgeregt. Und selbst Akademieleiter Hans-Christoph Rademann erkundigte sich aus dem wohlverdienten Urlaub ungeduldig: Ist sie schon da? Die Rede ist von einer handlichen Orgel, die vom fernen Dresden wohlverpackt auf die Reise geschickt worden war und eigentlich jede Minute in der baden- württembergischen Landeshauptstadt eintrudeln sollte. Nun handelte es sich bei dieser Truhenorgel aber nicht um den Nachbau irgendeines historischen Instruments, das da 2013 im sächsischen Seerhausen in einem jämmerlichen Zustand entdeckt wurde. Diese Orgel stammt vielmehr aus der Werkstatt des legen dären Bach-Zeitgenossen Gottfried Silbermann und steht somit für genau jenen mitteldeutschen Barockklang, dem man in Stuttgart ab sofort auf Instrumenten der Bach-Zeit nachspüren will.
Mit der bei einer Dresdner Orgel-Werkstatt in Auftrag gegebenen Rekonstruktion dieser Silbermann- Rarität ist vorerst eine künstlerische Neurorientierung abgeschlossen, mit der nicht zuletzt Hans- Christoph Rademann Stuttgart zu einem Zentrum für Alte Musik machen will. Und dafür hat er seit seinem Amtsantritt vor drei Jahren als auch Künstlerischer Leiter der Gächinger Kantorei so einiges in Bewegung gesetzt. Immerhin wurden der von Helmuth Rilling gegründete Konzertchor sowie das Bach-Collegium Stuttgart von seinem Nachfolger nicht nur fusioniert. Das auf „Gaechinger Cantorey“ umgetaufte Musikerkollektiv verkörpert zugleich ein ganz neues Klangdenken, wie Chefdramaturg Henning Bey erläutert: „Der Wechsel zu einem Barockorchester ist durchaus eine Zäsur, da Rilling sich immer bewusst dagegen entschieden hat. Er wollte das Barock-Repertoire stets auf modernen Instrumenten spielen. Hans-Christoph Rademann schlägt da einen anderen Kurs ein. Was angesichts seiner bisherigen Vita aber nicht überrascht.“

Die Weichen für eine vielversprechende Zukunft sind gestellt.

Tatsächlich stand beim gebürtigen Dresdner, Dirigenten und Chorleiter Rademann die Beschäftigung mit der historischen Aufführungspraxis stets im Mittelpunkt. So hat er etwa neben seiner langjährigen Leitung des RIAS Kammerchors vielfach auch mit der Berliner Akademie für Alte Musik sowie dem Freiburger Barockorchester zusammengearbeitet.
Seitdem Rademann 2013 die Leitung der Stuttgarter Bachakademie übernommen hat, ist viel passiert. Die beiden Traditionsklangkörper Gächinger Kantorei und Bach-Collegium sind wie gesagt nun Vergangenheit. Wenngleich natürlich jeder der verdienten Choristen und Orchestermusiker die Möglichkeit bekam, sich für das neue musikalische Abenteuer auch über Workshops zu bewerben. Im Gegensatz aber etwa zu der einstigen Gächinger Kantorei, einem bis zu 200 Mitglieder starken Projektchor, ist ab sofort alles wesentlich schlanker besetzt, um dem barocken Klang und den damaligen Aufführungspraktiken so nahe wie möglich zu kommen. Für das grundsätzliche Reset von Chor und Orchester und damit für ein aufregend frisches Bach-Klangbild haben Rademann und sein Team aber nicht nur Musiker aus der Region gewonnen. Henning Bey, der selbst 2015 vom Freiburger Barockorchester nach Stuttgart wechselte: „Hinzu kommen international allererste Barockmusiker. Die neue Konzertmeisterin der Gaechinger Cantorey wird die ehemalige Konzertmeisterin von The English Concert sein.“ Aber auch der Solo-Cellist kommt von diesem grandiosen englischen Barockorchester. Was das Repertoire der Gaechinger Cantorey angeht, so will man sich das Step by Step erarbeiten. Zunächst fokussiert man sich auf das Kernrepertoire mit Bach und Händel. Aber natürlich, so Bey, wird man irgendwann sicherlich auch auf Instrumenten aus der Beethoven-Zeit etwa Mendelssohn spielen.
Die Weichen für eine vielversprechende Zukunft sind also gestellt. Die ersten musikalischen Visitenkarten wird die Gaechinger Cantorey gleich beim bevorstehenden Stuttgarter Musikfest abliefern. Dort kann man sich dann auch klanglich davon überzeugen, dass die auf historische Orgeln spezialisierte Wegscheider-Werkstatt bei dem Nachbau der Silbermann- Truhenorgel von 1722 mehr als nur glänzende Arbeit geleistet hat. Immerhin soll sie laut des glücklichen Probespielers Rademann glatt die Power einer Kirchenorgel besitzen!

Musikfest Stuttgart

1. bis 11. September
www.bachkakademie.de

Musikfest Stuttgart

Unter der Überschrift „Reichtum“ steht das zehntätige Musikfest, bei dem die allerersten Konzerte mit der Gaechinger Cantorey im Mittelpunkt stehen. Gleich zu Beginn widmet man sich u. a. mit Sopran-Engel Dorothee Mields Monteverdis „Marienvesper“. Und nach ausgewählten Bach-Kantaten erklingt beim Abschlusskonzert neben Händels Oratorium „L’allegro, il penseroso ed il moderato“ auch konzertant die neue Truhenorgel. Zu den weiteren illustren Gästen des Musikfests gehören etwa Dirigent Reinhard Goebel, der mit dem Mannheimer Mozartorchester Werke der Mannheimer Schule präsentiert, der türkische Fagottist Burak Özdemir mit seinem Sampling Baroque- Projekt sowie Hille Perl, Christian Gerhaher und Thomas Zehetmair.

Guido Fischer, 27.08.2016, RONDO Ausgabe 4 / 2016



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