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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Rom (c) Moyan Brenn/flickr.com

Hörtest

Mendelssohn: „Italienische“ Sinfonie

Noch immer wird Felix Mendelssohn Bartholdy unterschätzt. Dabei ist seine Musik mehr als flirrende und leichthin komponierte Sommernachtslyrik – seine 4. Sinfonie war Schwerstarbeit.

Diese Musik ist der klingende Beweis für die deutsche Italien-Sucht! Oder etwa nicht? 1830 war Felix Mendelssohn Bartholdy in Rom, und in den frühen Wintermonaten beschloss er, sich sinfonisch vor dem Land zu verbeugen. „Überhaupt geht es mit dem Komponieren jetzt wieder frisch, die Italienische Symphonie macht große Fortschritte, es wird das lustigste Stück, das ich gemacht habe“, schrieb er an seine Schwester Fanny. Aufgrund dieser Äußerungen liegt der Beiname „Italienische“ nahe, tatsächlich aber wurde das Werk erst von der Nachwelt so betitelt, nach Mendelssohns Tod.
Anfang der dreißiger Jahre befand sich Felix Mendelssohn auf Bildungsreise, die sein Vater Abraham veranlasste, um dem zwanzigjährigen Sohn – im Sinne bürgerlicher Bildung – den großen Horizont zu eröffnen. Der Intellektuellenmarathon startete in England, wo er als Pianist und Komponist außerordentlich gefeiert wurde. Mit Erinnerung an umjubelte Vorführungen der „Sommernachtstraum“- Ouvertüre reiste Mendelssohn über Weimar und München ins Sehnsuchtsland Italien.
Natürlich lädt der Entstehungskontext der vierten Sinfonie dazu ein, die Musik mit Geschichten zu belegen, mit Bildern der fantastisch-italienischen Landschaft. Doch weit gefehlt: Dies ist keine programmatische Sinfonie, sie entstand überdies zum größten Teil in Berlin. Außerdem zog sich diese Entstehung über viele italienferne Jahre hin, da Mendelssohn selbst nach der Uraufführung 1833 in London nicht damit zögerte, zu ändern, zu schrauben, um dann doch nicht zufrieden zu sein – und das Werk zeitweise wieder in die Schublade zu verbannen. Dies steht in krassem Kontrast zu den Zeilen an Fanny, es ist ein permanentes Auf und Ab. Der scheinbar schwerelos komponierende Jüngling werkelte intensiv, und die Vielfalt der Fassungen stiftet noch heute Verwirrung. Aber erst der Blick in den Maschinenraum eines komponierenden Mendelssohn räumt endlich mit dem Bild des künstlerischen Träumers auf, von dem lange geglaubt wurde, die Musik flösse ihm nur so aus der Feder. Es war Schwerstarbeit!

Den Titan auf den Kopf gestellt

Mendelssohn liebte den Blick in die Vergangenheit, er blieb größtenteils in der klassischen Tradition Beethovens und empfand dies nie als Bürde. Bei anderen Komponisten der Romantik provozierte der Tod dieses Titanen Gefühle der Ohnmacht: Alle mussten sich an Beethoven messen. Felix Mendelssohn kehrte Beethovens Leitlinie „vom Dunkel ins Licht“ um:So sprudelt der Kopfsatz der vierten Sinfonie vor Energie, der letzte Satz steht in Moll.
Rhythmisch vibrieren die Bläser am Beginn dieser Sinfonie, stecken die Streicher an, die das Hauptthema, das den ersten Satz prägen wird, nur so herausschleudern. Es ist der Eindruck von anstrengungsloser Bewegung. Durch die Kombination und Ausdehnung dieses ersten, geradezu hüpfenden Themas mit dem sanglichen, jedoch nur ab und zu auftretenden zweiten entsteht ein jubilierender Eindruck. Spannung beschwört erst das dritte Thema, das sich behutsam kontrapunktisch zu sträuben versucht, jedoch nie dominant nach vorne drängelt. Das zwingt auf subtile Weise herrlich zum Hinhören! Diese Art von Stimmführung findet man bei Rossini und Bellini, nicht aber bei Beethoven. Im zweiten Satz, Andante con moto, herrscht gedämpft-trübe Stimmung; der trauermarschartige Satz entstand mutmaßlich in Anlehnung an eine Pilgerprozession, der Mendelssohn in Neapel beiwohnte. In der Mendelssohn-Forschung gibt es aber noch eine weitere These: Die Hauptmelodie sei mit dem „König von Thule“ Carl Friedrich Zelters verwandt, der Mendelssohn lange Jahre in musikalischen Belangen unterrichtete und den künstlerischen Nährboden mit ihm beackerte. Damit wäre es eine Doppelhommage, denn kurz nachdem Mendelssohn von Zelters Tod erfuhr, verstarb auch Johann Wolfgang von Goethe, der mit den Mendelssohns in freundschaftlichem Verhältnis stand – und dessen Zeilen Zelter im „König von Thule“ schließlich vertont hatte.
Der dritte Satz wird von zart schwingenden Melodien der Streicher eröffnet: Das Menuett ist leicht und duftig und flankiert einschmeichelnd eine romantische Trioszene mit bittersüß eingedunkelten Akkorden der Hörner, bevor der letzte Satz rabiat dazwischen grätscht: mitreißender Rhythmus, mit herb-wildem Getanze, Triolenfeuerwerk und rauer Intensität. Es scheint die düstere Spiegelung des Kopfsatzes, woran fugierte Zitate erinnern. Der Saltarello ist ein orchestrales Furioso, ein entfesseltes Ritual!

Aufgeplustertes Gepolter, befeuerter Ausbruch

Frans Brüggen und das Orchestra of the Eighteenth Century (2013, Glossa/Warner) legen darauf keinen Wert, sie haben den scharfkantigen Rhythmus abgeschmirgelt und purzeln durch das Finale. Zwar hypnotisiert der zweite Satz mit durchdringenden Holzbläsern, doch auch der verschleppte Anfang dieser Sinfonie ist ein bedenkliches Kontrastprogramm zu Mendelssohns Partitur. Bruno Weil und das Tafelmusik Baroque Orchestra (2012, Tafelmusik) schaffen es über lange Passagen, Mendelssohn die Leichtigkeit zu nehmen, das Natürliche wird künstlich aufgeplustert und mit Bedeutungsschwangerem umnebelt. In kleinen Momenten mag das gelingen und die Ohren fürs Neue öffnen, nach kurzer Zeit des Gepolters und Gedröhnes verebbt die Lust. Kurt Masur und das Gewandhausorchester Leipzig (1988, Warner) überzeugen ebenfalls nicht: Eher gemächlich und dabei unpräzise wallen sie durch die Sätze, was im Langsamen perfekt passt, bei den Ecksätzen aber zieht wie Kaugummi. Dynamik soll hier nur im Großen funktionieren, Details werden ausradiert.
Die nächsten vier Aufnahmen sind solide Konservierung, das Mindestmaß mit Ausreißern nach Oben und Unten. Heinz Holliger und das Musikkollegium Winterhur (2011, Naxos) konzentrieren sich auf die Details, einzig der langsame Trauermarsch scheint endlos weiterlaufen zu wollen und verliert nicht an Stringenz durch Vernarrtheit in winzige Lieblingsstellen. Roger Norrington und dem Radio-Sinfonieorchester des SWR (2004, Hänssler/Naxos) kann der Trauermarsch gar nicht schnell genug gehen, der Farbenreichtum rettet das nicht. Diese Einspielung ist durchsichtig. Gut, um sich einen Überblick zu verschaffen. Die sehr helle Strahlkraft des Philharmonischen Orchesters der Slowakei (1993, Naxos) unter Anthony Bramall sticht unter allen Aufnahmen am deutlichsten hervor. Manches geht durcheinander, man will es verzeihen. Die Liveaufnahme von Andrés Orosco-Estrada und dem Tonkünstler-Orchester (2015, Oehms/Naxos) hat Drive, der Bogen wirkt etwas konstruiert. Und so arbeiten sich die Musiker von Höhepunkt zu Höhepunkt – und vernachlässigen die Töne dazwischen.
Wenn erst einmal der Klangschock überwunden, das teils schwülstige Überschwemmen mit schierer Masse gebannt ist, erfreut der lebendige Duktus vom New Philharmonic Orchestra (2011, Warner) unter Riccardo Muti. Im dritten Satz erreicht das dann zwar auch Gipfel der Ödnis, aber der Abschluss entschädigt in seiner Radikalität, und die Musik bäumt sich mehr und mehr auf. Bei Christoph Poppen und der Deutschen Radio Philharmonie (2008, Oehms/SWR) vermisst man diesen Biss, doch wirklich schief geht nichts, und es herrscht eine fast überzogene Disziplin, die den Hörer nicht schwelgen lässt, ihn permanent fordert. Jörg Widmann und sein Irish Chamber Orchestra (2016, Orfeo) kämpfen für ihre Idee vom Übersprudeln, vom Glauben an den reinen Klang. Das ist unfassbar herrlich, nur nimmt die Ungenauigkeit immer weiter zu. Man musiziert den Phrasen hinterher, wird dabei zu oft auf den Boden geholt. Edward Gardner und das Birmingham Symphony Orchestra (2014, Chandos/ Note1) glänzen nicht durch solche Besonderheiten, sie schwächeln aber auch nicht, wobei mehr Risiko der reinen Notenperfektion fast immer gut tut! Tut nicht weh, haut aber auch nicht um.
Alexander Liebreich und das Münchner Kammerorchester (2015, Sony) haben eine bezaubernde Einspielung vorgelegt, durchsichtig, dabei nie uninspiriert. Da drängeln die Triolengruppierungen im letzten Satz aneinander, dass kein Blatt mehr dazwischen passen würde. Die Zügel sind dabei manchmal etwas zu fest angezogen, manchmal wünscht man sich das weniger glatt gehobelt. Zwar schaffen Jiří Bělohlávek und die Prager Philharmoniker (2006, Supraphon) diese Wucht nicht, die Aufnahme hält aber ein Gleichgewicht zwischen Akkuratesse und Risiko. Manchmal verliert sich das Orchester beinahe in Details, was schmunzeln lässt und Spannung erzeugt. Die Kammerakademie Potsdam und Antonello Manacorda (2016, Sony) halten mit dem neusten Beitrag unter den hier getesteten Platten ein Plädoyer für die jugendliche Frische: Dynamisch reizt Manacorda die Möglichkeiten des Orchesters aus, große Spannungsbögen haben innerliche Höhepunkte, es entsteht fast schon Terassendynamik. Letztlich fabelhafte Aufnahmen, die alle reizvoll sind.
Mit dem Begriff der Referenzaufnahme ist man lieber vorsichtig, zu häufig wird mit Superlativen um sich geworfen. Aus unserer Auswahl kann man die Aufnahmen von Nikolaus Harnoncourt mit dem Chamber Orchestra of Europe (1991, Apex/Warner) und Pablo Heras-Casado mit dem Freiburger Barockorchester (2016, harmonia mundi) dazu zählen. Damit stehen eine Aufnahme von 1991 (Harnoncourt) und 2016 (Heras-Casado) an der Spitze: Das Chamber Orchestra of Europe ist einfach nicht auf eine Klangfarbe zu reduzieren. Wie ein Chamäleon wechselt es die Schattierungen, wenn Mendelssohn es braucht. Die Gelassenheit im zweiten Satz schwillt zu Selbstmitleid auf, beruhigt sich, bevor die Musiker sich am Leid laben. Und hier kann man wirklich von einem furiosen Finale sprechen: Es rattert, knirscht und kreischt. Abgründig schön! Das Freiburger Barockorchester erreicht eine Energie, die irgendwo ganz tief schlummern muss. Die Läufe der Geigen und Bratschen umschlingen sich gegenseitig und befeuern die Freude am Ausbruch. Die Traditionsfäden klassischer Musik, die das Orchester jahrelang studiert hat, verhelfen Mendelssohns Vierter zu jenem Spektrum musikalischer Facetten, das sie verdient hat. Ein Meisterwerk mit vielen Gesichtern!

Neapolitanisches Feuer:

Chamber Orchestra of Europe, Nikolaus Harnoncourt

Warner

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Freiburger Barockorchester, Pablo Heras-Casado

harmonia mundi

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Römisches Reisefieber:

Prager Philharmoniker, Jiří Bělohlávek

Note 1

Münchner Kammerorchester, Alexander Liebreich

Sony

Kammerakademie Potsdam, Antonello Manacorda

Sony

Mailändisches Mittelmaß:

City of Birmingham Symphony Orchestra, Edward Gardner

Chandos/Note 1

Irish Chamber Orchestra, Jörg Widmann

Orfeo/Naxos

Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern, Christoph Poppen

Oehms/Naxos

New Philharmonia Orchestra, Riccardo Muti

Warner

Leipziger Allerlei:

Tonkünstler-Orchester, Andrés Orozco-Estrada

Oehms/Naxos

Slowakische Staatsphilharmonie, Anthony Bramall

Naxos

Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, Roger Norrington

SWR Music/Naxos

Musikkollegium Winterthur, Heinz Holliger

Naxos

Tafelmusik, Bruno Weil

Tafelmusik/Naxos

Gewandhausorchester, Kurt Masur

Warner

Orchestra of the Eighteenth Century, Frans Brüggen

Decca

Christopher Warmuth, 20.08.2016, RONDO Ausgabe 4 / 2016



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