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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Belcea Quartet (c) Marco Borggreve

Hörtest

Brahms: Streichquartett Nr. 1 c-Moll

Unter den Aufnahmen des 1. Streichquartetts von Johannes Brahms sind etliche Trostpreise und sogar Nieten. An der Qualität des Werkes liegt das aber nicht.

Brahms, ein Fall für Fortuna? Kein anderer Komponist des klassisch-romantischen Repertoires scheint so sehr Glückssache zu sein, ist so sehr abgemeldet und schwer zu treffen wie der Wahl-Wiener aus Hamburg. Als Niete galt er manchen schon früher. „Brahms, the old bore!“ („Brahms, der alte Langweiler“), so beseufzte der Dirigent Thomas Beecham den Komponisten (und dirigierte ihn trotzdem).
Der Verdacht, Brahms sei ein trockener Akademiker mit gelegentlichem Zigeuner-Einschlag, zeigt sich in der ungeheuren Schwierigkeit, heute noch gute Aufnahmen seiner Werke zu finden. Es mag kein Problem sein, gelungene Aufführungen seines „Deutschen Requiems“ zu besuchen. Auch satisfaktionsfähige CDs seiner vier Sinfonien, seiner Konzerte und grandiosen Lieder sind heute selten, aber nicht ausgeschlossen. Aber Kammermusik? Ziemlich finster. Es scheint ein Problem der Tonlage, der Geistesverfassung, der Zeitumstände zu sein, was uns Brahms seit vielen Jahren immer mehr entfremdet.
Hören wir uns mal unter ein paar jüngeren Versuchen um, das erste Streichquartett c-Moll op. 51/I mit neuem Leben zu erfüllen. Komponiert 1873 im bayerischen Tutzing, zählt das Werk immer noch zu den populärsten Kammermusikstücken des Komponisten (über-troffen allerdings durch fast alles, an dem ein Klavier beteiligt ist). Das Quatuor Ébène gehört gewiss zu den drei, vier besten, universalistisch gepolten Quartettformationen der Gegenwart. Seine Aufnahme von 2008, noch mit Mathieu Herzog an der Bratsche, besticht durch Direktheit, kühle Klangschönheit und superbe Binnendifferenzierung. Aber wirklich Brahms?! Ist dies nicht eher ein nachgelassener, ermäßigter Beethoven? Zu salonhaft umstandslos, zu elegant. Zu schön umsungen.
Das Emerson String Quartet, seit 40 Jahren eine feste Bank der internationalen Kammermusik, hat sich zwei Mal über das c-Moll- Quartett hergemacht. Die Aufnahme von 1984 stand wie unter dem Motto „Brahms, der Fortschrittliche“: rasch, symmetrisch clean und ein bisschen zu neutral. 2005 versuchte man es noch einmal. Man heizte die Stimmen stärker mit Gefühlen auf; würzte böhmisch nach. Moderner als das LaSalle Quartet (1978) wird man dennoch nicht. Deren harrscher Küchenkachel- Klang vermittelte seinerzeit mehr psychologische Nervosität, mehr zeitdiagnostischen Scharfblick. Und dramatischere Unterschiede zwischen den Sätzen findet man hier auch. Eine klare, geradezu radikale Position, immer noch. Und die ist fast 40 Jahre her.

Auf der Suche nach dem Brahms-Klang

Erster Volltreffer: das Artemis Quartett. Krisengeschüttelt nach diversen, teilweise tragischen Umbesetzungen, holte man 2014 (in der letzten Aufnahme mit Sebastian Weigle) zu hinreißendem Schwung aus, verband Lyrik und Elastizität, ohne die Neigung zum Böhmakeln zu vertuschen. In den huschenden, luftig verblitzten Stimmen merkt man, was ein gutes Streichquartett eigentlich auszeichnet: die Fähigkeit, einander wechselseitig den Vortritt zu lassen; höflich auszuweichen, ohne dass Löcher dabei entstehen. Großartig.
Das ist genau jene Eigenschaft, die nur in langen Jahren der Zusammenarbeit entsteht. Und die leider bei dem All Star-Ensemble des Arcanto Quartetts fehlt (2007 mit Antje Weithaas, Daniel Sepec, Tabea Zimmermann und Jean-Guihen Queyras). Klanglich schon toll. Mit den Schlürfund Schleifgeräuschen bezieht man stärker als alle anderen die historische Aufführungspraxis mit ein. Doch die vier Hochberühmten sind zu sehr damit beschäftigt, ein Zusammenspiel herzustellen, als dass ein echter Brahms-Klang aufkommen könnte. Jeder tut sich da ganz besonders schön hervor. Klingt bemüht.
Freilich, was in Gottes Namen soll denn eigentlich ein ‚Brahms-Klang’ sein? Ansichtssache, na klar. Ein Blick indes auf die kanonische Aufnahme des Amadeus-Quartett (1959) lehrt, warum diese Nachkriegsformation immer noch angestaunt werden muss. Ernst, dringlich und doch von merklichem Gründerzeitoptimismus geprägt, ist das Amadeus Quartet die fast einzige Formation, die den Mut aufbringt, auch Brahms’ Negativität, seinem melancholischen Relativieren zu folgen. Gegen den heiligen Ernst, mit dem diese gesetzten Herren bei der Sache sind, scheint fast alles Spätere harmlos und Pillepalle. Auch die Dialektik der Sätze hört man nirgendwo so klar wie hier. Kurz: Hier ist Drama, hier sind Sentiment und Struktur. Ganz großes Kino!
Klassischen Rang darf auch das Alban Berg Quartett für sich beanspruchen. Orchestral auffächernd, mit feinem Klangspektrum und gut kalkulierten Temperaments-Abstürzen, stellt die Aufnahme von 1991 souverän eine Verbindung zum Sinfoniker Brahms her. Die impressionistischen Stimmungen, wie aus einem Guss, erinnern an den komfortablen Prachtund Schmelzklang der 80er Jahre. Was technisch bestechend klingt. Und auch ein kleines bisschen … betagt.
Altmodisch, aber gleichfalls schön, tönt das Quartetto Italiano (1967) – mit Trauerflor und gemächlich wallender Schleppe. Man liest das Stück ganz von den Stimmungsschwankungen her, was die Sache vereinseitigt, aber nicht weniger fesselnd macht. Den Ernst des Gegenstands lösen die Vier durch eine elegische Färbung ein. Die Romanze gerät zum Trauerkondukt. Die Musiker auf den mittleren Plätzen tun sich prominent hervor, was als Bindemittel den orchestralen Charakter unterstreicht. Ganz anders, aber doch von ganz eigenem Reiz.

Miniorchestser oder "Quadrolog"?

Man könnte gewiss alle Brahms- Quartette, vielleicht sogar sämtliche Quartettaufnahmen insgesamt, in zwei Sorten unterteilen: Entweder die Musiker spielen aus der Perspektive eines Mini-Orchesters (Quartetto Italiano, Alban Berg Quartett). Oder sie fassen die Sache als echten ‚Quadrolog’ auf – mit vier subjektiven Beiträgen individueller Redner (Artemis, Emerson). Auf diesem letzteren, dialogisierenden Weg bewegt sich auch ein Überraschungsgewinner dieses Vergleichs. Dem Belcea Quartet (2003, und ganz neu: 2016) gelingen mit elegisch-transparenter, schön ausdifferenzierter Klangatmosphäre Aufnahmen von erstaunlicher Dichte. Im Schlusssatz mutiert das zwar (erneut) zu einer Art verdunkeltem Beethoven. Jedoch ohne Furcht vor waldeinsam verrufenen Stellen des Werkes. So gewinnt man hier – in der Neuaufnahme bei eindeutig gemächlicheren Tempi – Einsichten in romantische Schichten und Dimensionen, die in anderen Deutungen verborgen bleiben. Man hört die Schumann-Nähe! Schade, dass dieses gute Schallplatten-Quartett in den letzten Jahren etwas in den Hintergrund getreten ist.
Fehlanzeige leider in Bezug auf das Cuarteto Casals. Ich gestehe, dass ich die Spanier zu den begnadetsten Haydn-, Beethoven- und Kurtág-Interpreten der Gegenwart rechne. Für Brahms finden sie – wegen zu zieriger 1. Geige und einem raschen, aus Ratlosigkeit geborenem Tempo – nicht den richtigen Ton.
Das Juilliard Quartet schließlich hatte 1993 seine allerbeste Zeit wohl schon hinter sich. Mit einem goldschnittig austarierten Zugang, auf Fülle angelegt, bezieht man eine ebenso professionelle wie kompetente, nur etwas geschmacksindifferente Position. Eine mittelwertige Aufnahme, gut und besitzenswert ähnlich wie beim Alban Berg Quartett und bei der späteren Aufnahme der Emersons.
Erst vor Kurzem wurden – auf Wunsch des französischen Geigers Renaud Capuçon – die sämtlichen Aufnahmen des legendären Busch- Quartetts wiederveröffentlicht. Die technische Aufnahmequalität (im Jahr 1932 !), aber auch die zuweilen anfechtbare Tonkonsistenz von Adolf Busch selber qualifiziert die Aufnahme eher für einen Seitenblick. Der aber lohnt sich! Welch scharfe Kanten und entschiedenen Akzente. Die Sache wird sofort dringend, schlüssig, sinnfällig. Man hört den Stachel im Fleisch des Komponisten. Die Romanze ist hier ein echtes Nachtstück. Der 4. Satz: großartig phrasiert in unendlich lang verlaufenden Linien! Eine Aufnahme wie aus grauer Vorzeit, und doch eine Brahms-Lektion, nach der man heute vergebens suchen würde.
Dass Brahms uns fremd geworden ist dank seiner steifleinenen, melancholisch eingetrübten Seriosität, hindert nicht, dass unter den zu vielen Aufnahmen immerhin einige gute sind. Wer die drei, vier großartig gelungenen Aufnahmen kennt, dem steht ein verschlossener Kontinent unversehens offen. Man lernt, dass ein verläpperter Brahms, ohne Haltung und ohne Anliegen gespielt, der einzige Grund dafür ist, weshalb man heute oft unberührt aus Brahms-Aufführungen herauskommt. Er wird zu leicht genommen – ähnlich wie man Wagner, Verdi und Sibelius heute zu schwer nimmt. Gerade weil Brahms so anders war als wir, ist er genau der Richtige für uns.

Hauptgewinn:

Amadeus-Quartett

DG/Universal

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Artemis Quartett

Erato/Warner

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The Busch Quartet

Warner

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Freilos:

LaSalle Quartet

DG/Universal

Alban Berg Quartett

Warner

Quartetto Italiano

Philips/Universal

Belcea Quartet

Alpha/Note 1

Trostpreis:

Juilliard String Quartet

Sony

Emerson String Quartet (2005)

DG/Universal

Arcanto Quartett

harmonia mundi

Emerson String Quartet (1984)

DG/Universal

Nieten:

Quatuor Ébène

Erato/Warner

Cuarteto Casals

harmonia mundi France

Kai Luehrs-Kaiser, 08.10.2016, RONDO Ausgabe 5 / 2016



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