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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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(c) Silvia Lelli

Riccardo Chailly

„Ich bin immer noch Italiener!“

Der Maestro über sein neues Mailänder Orchester, seinen Wunsch-Klang – und seine Ehefrau Gabriella.

RONDO: Herr Chailly, Ihr Abschied beim Gewandhausorchester Leipzig fiel kürzlich nahezu aus. War am Ende doch nicht alles so, wie Sie es sich gewünscht hatten?

Riccardo Chailly: Nein, das war nicht der Grund. Ich bin einfach krank geworden. Ich hatte in Leipzig eine tolle Zeit. Das Orchester ist exzellent, nur hatte ich, als es um meinen Abschied ging, plötzlich Herzprobleme. Das war Unglück. Aber nicht Unzufriedenheit.

RONDO: Ihr Nachfolger, Andris Nelsons, beginnt bereits 2017, während Ihr eigener Vertrag eigentlich bis 2020 dauern sollte. War es vielleicht doch so, dass Sie dachten, nicht mehr gewünscht zu sein?

Chailly: Ich kann ehrlichen Herzens sagen: So war es nicht. Es war nur zu viel für meine Person. Mailand und meine Gesundheitsprobleme waren der Grund.

RONDO: Beim Musikfest Berlin dirigieren Sie mit der Filarmonica della Scala eine Elitevereinigung des Opernorchesters der Mailänder Scala. Etwas Ähnliches wie bei den Wiener Philharmonikern?

Chailly: Ja, kann man sagen. Es ist ein selbstbestimmtes, demokratisch organisiertes Orchester, dessen Musiker bei der Scala unter Vertrag stehen. Sie haben eine eigene Tradition, die von Carlo Maria Giulini, Claudio Abbado und Riccardo Muti geprägt wurde. Das Orchester tourt auch fleißig, wie die Wiener Philharmoniker. Was ich selber mit dem Orchester tun möchte, ist, den Blick nach Mitteleuropa zu intensivieren. Mit Schumann etwa und mit Brahms, der seit Giulini kaum mehr gespielt wurde.

RONDO: Da Sie das Brahms-Violinkonzert aufführen: Ist Brahms in Italien ähnlich unbeliebt wie Bruckner?

Chailly: So war es einmal. Bruckner ist aber ein viel härterer Fall. Mit ihm hat sogar Claudio Abbado in Italien Mühe gehabt. Das Problem besteht nie in der Spiritualität dieser Komponisten. Die wird von den Italienern sehr gut verstanden. Sondern in der musikalischen Sprache. Ich bin, glaube ich, bis heute der einzige italienische Dirigent, der einen ganzen Bruckner- Zyklus dirigiert hat.

RONDO: Woran müssen Sie mit der Filarmonica della Scala besonders arbeiten, um einen idiomatischen Brahms-Klang zu erzeugen?

Chailly: An der Dunkelheit. Der italienische Klang hat nicht die Schwere und tiefe Farbe deutscher Orchester. Dafür mehr Transparenz. Meine Methode besteht immer darin, dass ich die Extreme hervorkehre. Also: den Klang extremer machen! Wenn man die Ecken hat, ergibt sich auch die Mitte. Es gibt niemals nur drei verschiedene Dynamiken, auch wenn man im Konzertbetrieb zuweilen diesen Eindruck gewinnen könnte. Wenn in den Noten steht „Piano dolce“, so will ich genau das auch hören.

RONDO: Von Verdis „Quattro pezzi sacri“ dirigieren Sie nur das „Stabat mater“ und das „Te Deum“, nicht alle vier. Warum?

Chailly: Weil nur diese beiden auch Orchester- Stücke sind. Ich glaube, dass Brahms und Verdi genau die richtige Message für dieses Orchester bilden – aus dem bestehend, was sie wollen und dem, was sie besser können als vielleicht alle anderen. Ist das zu viel Überschwang? Ich bin immer noch Italiener!

RONDO: Erstaunlicherweise ist die Filarmonica della Scala Ihr erstes italienisches Orchester. Eine Heimkehr nach Mailand – oder ein Neuanfang?

Chailly: Weder noch, denn diese Rückkehr steht an, nachdem ich 30 Jahre, während ich fest in Berlin und Amsterdam war, immer wieder als Gast kam. Ich habe hier viele Opern dirigiert und mit der Filarmonica della Scala die erste US-Tour des Orchesters seit Toscanini gemacht. Ich vergesse auch nicht die interessanten Jahre in Bologna und beim Orchestra Verdi di Milano. Länger kann man eine Rückkehr doch gar nicht vorbereiten.

RONDO: Tatsächlich blieben Sie bei allen Ihren Orchestern jeweils sehr lange. Sind Sie so treu?

Chailly: Man muss es sein, um der Arbeit Zeit zu geben und sich zu entwickeln. Außerdem werde ich älter. Für mich galt immer: Mach nicht zu viel! Deswegen gibt es viele Sachen, die ich nicht dirigieren will. Nicht „Pelléas et Mélisande“ und keinen Berlioz! Ich kenne diese Dinge alle ganz gut. Und mag sie auch. Damit das so bleibt, halte ich mich zurück. Man muss seine eigene Richtung fühlen. Das Gefühl macht‘s! Das würden, glaube ich, gar nicht so viele Dirigenten zugeben. Außerdem will ich Zeit zum Studieren haben, ohne Plan.

RONDO: Was studieren Sie gerade?

Chailly: „Timaios“, einen späten Dialog von Platon. Darin geht es um antike Kosmologie und Metaphysik. Der Text gehört zu den einflussreichsten im europäischen Mittelalter. Man braucht immer auch etwas anderes, neben der Musik.

RONDO: Wie viele Ihrer Kollegen – zum Beispiel Riccardo Muti, Zubin Mehta und Mariss Jansons – haben auch Sie in Gestalt Ihrer Frau Gabriella einen starken Ehepartner hinter sich. Richtig?

Chailly: Sie ist der Schlüssel zu meinem Privatleben. Sie ist immer mit dabei, auch wenn ich auf ReiReisen bin. Das liegt wahrscheinlich daran, dass wir Dirigenten beim ständigen Reise-Leben, das wir führen, etwas Festes, ein Kontinuum brauchen. „Table for one“ ist, wenn Sie als Dirigent reisen, keine angenehme Ansage.

RONDO: Worin besteht die Funktion Ihrer Ehefrau?

Chailly: Sie hat keine Funktion, das ist ja gerade der Witz dabei. Sie ist einfach eine großartige Frau. Sie liebt Musik, macht aber keine Musik. Sondern malt. Wir ergänzen uns großartig, und in diesem Zusammenspiel liegt unsere gemeinsame Funktion.

Heißer Cocktail

Ein kleiner italienischer Schwerpunkt lässt sich beim diesjährigen Musikfest Berlin ausmachen. Dazu gehören außer Chailly (13.9.) auch die drei Monteverdi-Opern, dirigiert von John Eliot Gardiner (2., 3., 5.9.), ein Konzert mit Monteverdi- Zeitgenossen der Akademie für Alte Musik Berlin (4.9.) sowie Monteverdis Missa „In illo tempore“ (15./16.9., RIAS-Kammerchor). Schon Daniele Gatti mit dem Concertgebouw Orkest widmet sich lieber Bruckner (6.9., ähnlich Daniel Barenboim zur Eröffnung, 31.8., und Marek Janowski mit den Berliner Philharmonikern, 14.–16.9.). Ansonsten gedenkt man des 100. Geburtstages von Isang Yun (10., 12., 17.9., Letzteres mit Vladimir Jurowski und dem RSB). Ilya Gringolts stellt solistisch die Capricen Paganinis denen Sciarrinos gegenüber (3.9.). Eine Uraufführung gibt’s von Rebecca Saunders (9.9., mit Künstlergespräch am 10.9.). Und Teodor Currentzis, der heißeste Barmixer im internationalen Gastierbetrieb, rührt einen Cocktail aus Purcell, Tanejew, Strawinski, Schnittke, Ligeti und Mozart (7.9.): ‚Planter’s Punch’, auf Klassisch. Die Party-Saison ist da!

Musikfest Berlin: 31. August - 18. September
Website und Tickets: goo.gl/i1okSi

Robert Fraunholzer, 02.09.2017, RONDO Ausgabe 4 / 2017



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