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N° 1353
13. - 23.04.2024

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am 20.04.2024



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Paavo Järvi

Familienbande

Mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen entschlackt der Dirigent seit über zehn Jahren das klassisch-romantische Kernrepertoire. Und das auf Augenhöhe mit den Musikern.

Paavo Järvi probt Beethovens Achte für eine bevorstehende China-Tour. Im Probensaal, der in der Gesamtschule Bremen-Ost untergebracht ist, klingt es direkt und sehr ungnädig, denn man hört alles. Die Musiker wirken angriffslustig und sitzen auf der Stuhlkante. Hier ruht sich niemand aus auf den Lorbeeren der legendären Gesamteinspielung, die als Sensation gefeiert wurde und 2010 prompt einen ECHO kassierte. Soeben ist das erste Album eines geplanten Brahms-Zyklus erschienen, den man mit der 2. Sinfonie eröffnet. Und wieder, auch hier, gelingt dem Dream-Team eine gründliche Durchlüftung des Bekannten. Nach der Probe bittet Järvi um eine kurze Pause, bevor das Interview beginnt.

RONDO: Was haben Sie mit der Deutschen Kammerphilharmonie entwickelt, seit Sie 2004 die künstlerische Leitung übernommen haben?

Paavo Järvi: Nicht ich habe – wir haben uns gemeinsam entwickelt. Und einiges verändert. Man könnte sagen, wir starteten als Kinder und nun, nach fast 20 Jahren, sind wir keine Kinder mehr. Diese enorme Menge an Reisen, Konzerten und Proben, das war ein langer Prozess, der eben auch Zeit braucht. Das ist ganz wichtig, um das Repertoire immer wieder zu überdenken, zu proben, aufzuführen, und es wieder zur Seite zu legen. Und nun erneut den Beethoven- Zyklus zu machen, ist sehr spannend, denn viele der Musiker sind neu im Orchester! Manche Prioritäten ändern sich.

RONDO: Können Sie den besonderen Geist dieses Orchesters beschreiben?

Järvi: Der Geist verdankt sich ganz wesentlich der Struktur des Orchesters. Denn die Musiker verwalten sich selbst, sie sind selbst Eigentümer, Shareholder des Orchesters. Für jeden Musiker ist das Orchester daher eine sehr persönliche Sache. Sie sind eben nicht angestellt. Der Erfolg des Ensembles ist ganz eng verknüpft mit ihrem persönlichen Erfolg. Das ist der Grund für diese besonders engagierte, andere Haltung, die sich auch in der Art zu spielen ausdrückt. Sie haben immer Lust auf die Proben. Manchmal arbeiten sie sehr hart und sind vielleicht ein bisschen müde, aber es ist ihre Nr. 1- Priorität, hier zu spielen, und das spürt man.

RONDO: Man fühlt die Freude bei der Probe!

Järvi: Ja, es ist eine spezielle Energie. Sie schonen sich einfach nie!

RONDO: Sie spielen keine historischen Instrumente, aber sie wissen um die historische Aufführungspraxis?

Järvi: Das ist genau das, was ich so schätze. Denn historische Instrumente zu spielen, ist schön und gut, aber es ist gar nicht nötig, wenn man die Konventionen der historischen Aufführungspraktik kennt. Die Bremer Musiker beherrschen das alles, sie haben sehr nahe dran an der Aufführungspraxis angefangen. Und nun expandieren wir gemeinsam mit diesen Kenntnissen in Bereiche des romantischen Repertoires wie Brahms und Schumann.

RONDO: Was halten Sie von dem Non Vibrato-Diktum?

Järvi: Ich denke, das ist eine Fehlkonzeption der Fanatiker. Vibrato wurde früher sehr wohl gelegentlich eingesetzt, um die Farbe und den Klang zu verändern. Nicht als Routine, so wie heute. Aber es kommt einfach sehr auf die musikalischen Notwendigkeiten des Moments an.

RONDO: Ab 2019 sind Sie Chef des Züricher Tonhalle- Orchesters. Wird das Orchester dann Ihre neue Nummer 1?

Järvi: Ich kann das gar nicht in diesem Lichte betrachten. Denn das hier ist meine Familie. Wir sind so lange Zeit zusammen, dieses besondere Orchester ist ein wichtiger Teil meines musikalischen Lebens. Ich möchte nicht missverstanden werden, wenn ich es so formuliere: Wenn man zwei Kinder hat, kann man doch nicht sagen, welches wichtiger wäre?

RONDO: Warum sind Sie hier mit dem Probenzentrum ausgerechnet am Ende der Welt, so weit vom Zentrum Bremens angesiedelt?

Järvi: Das ist kein Zufall, sondern ein ganz wichtiger Aspekt, denn die Musiker sind sehr engagiert in Sachen Education und Integration. Wenn ich komme, sitzen manchmal ganze Klassen in den Proben. Aber nicht im Saal, sondern im Orchester, neben den Musikern! Das ist ein Teil der pädagogischen Projekte, die das Orchester sehr ernsthaft betreibt.

RONDO: Wie würden Sie das Kernrepertoire des Orchesters umreißen?

Järvi: Das Kernrepertoire ist das klassische und frühromantische Repertoire. Wenn wir auf die Entstehungszeit des Orchesters zurückblicken, dann war da viel Haydn, auch Bach. Seit ich kam, und nachdem wir den Beethoven-Zyklus eingespielt hatten, lag der Akzent zunächst bei Schumann. Und nach Schumann kommt nun Brahms. Meine Hoffnung ist, dass wir weitermachen mit Schubert. Das ist genau das richtige Repertoire für die Besetzungsgröße und den Zuschnitt des Orchesters.

RONDO: Mit der neuen Brahms-Einspielung ist wieder ein Wurf gelungen, der das Zeug zur Referenz- Aufnahme hat. Ist die Revision des Brahms-Bildes das Ziel?

Järvi: Ich bin sehr stolz darauf, es ist ein großes Projekt, denn die Musiker hatten sich vorher nie mit Brahms beschäftigt, bislang ist Brahms den großen Orchestern vorbehalten. Dabei hatte Brahms nie mehr als 40 Leute im Orchester! Daran müssten die Leute erinnert zurückbliwerden. Wir sind gewöhnt an die Post-Wagner- Brahms-Auffassung, ich selbst bin so groß geworden, mit den Aufnahmen von Furtwängler und Karajan. Ich glaube, wir machen das nun in der angemesseneren Weise. Aber es gibt kein richtig und falsch.

RONDO: Brahms klingt in Ihrer Einspielung ungewohnt rhetorisch?

Järvi: Rhetorik! Genau das versuchen wir, und der agogische Impuls ist ganz generell unser Motor.

kammerphilharmonie.com

Neu erschienen:

Johannes Brahms

Sinfonie Nr. 2 D-Dur, Akademische Festouvertüre op. 80, Tragische Ouvertüre op. 81

Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, Paavo Järvi

RCA/Sony

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Die Bremer Kammerphilharmonie ist als Privatgesellschaft organisiert und verwaltet sich selbst. Alle Entscheidungen bezüglich Programm, Besetzungen und Einspielungen treffen die Musiker. Relativ selbstbestimmt und unabhängig sind diese auch in Sachen Finanzierung, denn anders als die meisten großen Orchester sind sie nur zu einem kleinen Teil abhängig von öffentlicher Subventionierung. Mehr als 70 Prozent des Jahresbudgets von 6,5 Millionen Euro erwirtschaftet das Ensemble durch Konzerte und Einspielungen, den Rest steuern private Geldgeber und staatliche Förderung bei. Die Unabhängigkeit sorgt für flache Hierarchien: Auch ihren Dirigenten begegnen die Musiker auf Augenhöhe.

Regine Müller, 09.12.2017, RONDO Ausgabe 6 / 2017



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