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N° 1354
20. - 30.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



Startseite · Interview · Gefragt

(c) Simon Fowler

Piotr Anderszewski

Form vollendet

Der polnische Pianist legt eine luzide und rhetorisch brillante Neueinspielung von Mozarts Klavierkonzerten Nr. 25 und 27 vor. Wir haben ihn getroffen.

RONDO: Sie sind bei den Mozart-Konzerten sowohl Solist als auch Dirigent. Ist die Koordination schwierig oder ein organischer Vorgang?

Piotr Anderszewski: Beides, es ist schwierig wegen des Multitaskings, aber zugleich auch organisch. Weil Mozarts Musik in sich selbst völlig organisch ist. Orchester und Klavier sind so innig verknüpft, dass es in gewisser Weise sogar einfacher ist ohne Dirigent.

RONDO: Weil Sie nicht reagieren müssen auf den Dirigenten, und er nicht auf Sie?

Anderszewski: Es ist einfach direkter. Bei den Mozart-Konzerten gibt es so etwas wie eine Konversation zwischen den Instrumenten und dem Klavier, und dieses Gespräch möchte ich so direkt wie nur irgend möglich führen.

RONDO: Wie groß ist die Orchesterbesetzung bei Ihrer Einspielung?

Anderszewski: Es ist keine Kammerorchester-Formation. Besonders das C-Dur-Konzert ist ein großes, majestätisches Stück, und vor allem für den ersten Satz ist es gut, wenn man über eine substantielle Menge von Streichern verfügen kann.

RONDO: Mozart wird heute häufig mit alten Instrumenten in historischer Aufführungspraxis gespielt. Haben Sie sich jemals damit beschäftigt?

Anderszewski: Ja, ich habe es ein bisschen versucht. Aber ich bin grundsätzlich nicht so sehr an den Instrumenten interessiert. Mehr an der Musik an sich, also an der Phrasierung, der Rhetorik und am Charakter, den ich erzeugen will. Und der Frage, wie baue ich Interaktion auf zwischen Phrasen und musikalischen Ereignissen. Ob nun dieses oder jenes Instrument, diese Frage ist für mich weniger wichtig.

RONDO: Sie sehen Mozart also weniger in seinem historischen Kontext?

Anderszewski: Was ich außergewöhnlich finde an Mozarts Musik: Die Essenz ihrer Humanität ist nach wie vor gültig. Und das ist es, was mich interessiert! Und nicht, auf einem Instrument zu spielen, auf dem vielleicht Mozart gespielt hat.

RONDO: Im Booklet schreiben Sie: Diese Konzerte sind wirkliche Opern!

Anderszewski: Ja, denn bei Mozart hat man es mit Charakteren zu tun. Für mich hat jede musikalische Phrase bei ihm einen bestimmten Charakter, und die unterschiedlichen Charaktere unterhalten sich.

RONDO: Ein Dialog zum Beispiel zwischen den Holzbläsern und dem Klavier?

Anderszewski: Ja, jemand stellt eine Frage, und einer antwortet. Das meine ich mit rhetorisch und opernhaft. Es gibt immer eine Geschichte! Keine konkrete Geschichte natürlich, aber eine abstrakte.

RONDO: Haben Sie ein Vorbild für Ihre Mozart-Interpretation?

Anderszewski: Nein, das einzige, was mich sehr stark beeinflusst hat vor langer Zeit, ist die polnische Cembalistin Wanda Landowska und ihre Aufnahme der Mozart-Klavierkonzerte auf dem Klavier. Worüber wir sprachen, die Rhetorik, die sprechenden Charaktere, das hat sie fantastisch herausgearbeitet.

RONDO: Wie wichtig ist Mozart für Sie?

Anderszewski: Der wichtigste. Er ist der Komponist, der mich seit der frühen Kindheit begleitet und er ist der einzige Komponist, der mich niemals ermüdet. Niemals! Mozart macht einfach grundsätzlich Sinn. Und diese Art von Sinn gibt auch dem Leben Sinn.

RONDO: Erinnern Sie sich an Ihre erste Begegnung mit Mozart?

Anderszewski: Nein, denn das war früher, als ich mich daran erinnern kann. Aber meine Eltern haben mir erzählt, es war „Eine kleine Nachtmusik“, und offenbar konnte ich nicht aufhören, dieses Stück anzuhören. Ich war ein sehr turbulentes Kind, nichts konnte mich beruhigen, aber wenn meine Mutter die „Nachtmusik“ auflegte, hatte sie 20 Minuten Ruhe.

RONDO: Ihre Eltern waren Musikliebhaber?

Anderszewski: Ja, sie sammelten Platten und liebten klassische Musik, aber sie waren keine Musiker. Der kleine Raum mit dem Plattenspieler war ein Heiligtum für mich.

RONDO: Wann haben Sie entschieden, Musiker zu werden?

Anderszewski: Ich habe es nie entschieden, immer noch nicht! Es ist einfach passiert.

RONDO: In Ihrer Jugend wollten Sie eigentlich Arzt werden?

Anderszewski: Unbedingt, und zwar Chirurg! Es klingt vielleicht schrecklich, aber ich hatte eine unbändige Neugierde zu wissen, wie das alles da drinnen funktioniert hinter unserer Hülle! Ich glaube wirklich, dass es mit der Musik das Gleiche ist. Was mich an Musik interessiert ist, warum es so und so funktioniert. Was sind die Energien, die Regeln, die Mechanismen im Inneren der Musik?

RONDO: Ist das ein analytischer Ansatz?

Anderszewski: Analytisch bedeutet für mich nicht intellektuell. Ich halte mich nicht für intellektuell, obwohl viele das von mir denken. Das Wichtigste ist für mich die Form. Was passiert zwischen der ersten und der letzten Note? Für mich ist es wichtig zu wissen, warum diese erste Note zu dieser letzten Note führt. Die Mechanik. Das klingt unromantisch, ich weiß.

RONDO: Wie bereiten Sie sich auf ein neues Stück vor: Lesen Sie Musikwissenschaftliches oder Biografien?

Anderszewski: Manchmal kann das helfen. Erstaunlicherweise gibt häufig die Lösung eines technischen Problems auch die Antwort auf eine musikalische Frage.

Neu erschienen:

Wolfgang Amadeus Mozart

Klavierkonzerte Nr. 25 und 27

Piotr Anderszewski, Chamber Orchestra of Europe

Warner

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Wahlverwandtschaft

Piotr Anderszewskis Karriere begann mit einer Verweigerung: 1990 brach er seinen preisverdächtigen Auftritt beim Klavierwettbewerb in Leeds mitten im Spiel ab, weil er mit sich unzufrieden war. Das kostete ihn zwar den Preis, aber sorgte für Schlagzeilen. Auch seine Entscheidung, nach Leeds zu gehen, verdankt sich einer Verweigerung: „Das Repertoire war sehr frei. Vorher war ich immer gedrängt worden, den Chopin-Wettbewerb mitzumachen, weil ich Pole bin und in Warschau lebte. Und ich fing an, all diese Chopin-Stücke zu üben und – so sehr ich Chopin liebe: Ich liebe Mozart und Beethoven! Ich wollte nicht zwei Jahre meines Lebens damit verbringen, nur Chopin zu spielen!“

Regine Müller, 17.02.2018, RONDO Ausgabe 1 / 2018



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