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N° 1353
13. - 23.04.2024

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am 20.04.2024



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(c) Siegfried Lauterwasser/DG

Leonard Bernstein

Mit der Musik per Du

Vor 100 Jahren wurde das Musik-Allround- Genie geboren. Ein Jubiläum, das mit zwei dicken CD-Paketen sowie unbedingt hörenswerten Neuproduktionen gefeiert wird.

Als Leonard Bernstein am 14. Oktober 1990 in New York starb, war er trotz seines exzessiven Lebenswandels abseits des Konzertpodiums stolze 72 Jahre alt geworden. Dennoch betrauerten viele seinen als zu früh empfundenen Tod. Diese schwer erschütterten Fans versuchte der amerikanische Komponist Ned Rorem nun wenigstens mit dem kleinen Rechentrick zu trösten, Bernstein hätte in Wahrheit das Methusalemalter von 288 Jahren erreicht – nach zusammen vier erfüllten Leben à 72 Jahren als Komponist, Dirigent, Pädagoge und als Mensch.
Tatsächlich war Bernstein ein klassischer Fall von Workaholic, der an Schlaflosigkeit litt und auch deswegen annähernd doppelt so viel wegarbeiten konnte. Zugleich war er ein von der Musik völlig Besessener, der sich geradezu rastlos von einem Projekt ins nächste Abenteuer stürzte. Sein Output war dementsprechend enorm. So hat er allein mit den New Yorker Philharmonikern über 1200 Konzerte gegeben und über 200 Schallplatten eingespielt. Trotzdem blieb diesem erfolgsverwöhnten, von aller Welt bewunderten Menschenfänger und Musikumarmer ein Traum unerfüllt. Wie Bernsteins Tochter Nina in Georg Wübbolts Filmporträt „Larger Than Life“ betont, wollte ihr Vater noch unbedingt das „große, bedeutende Werk seiner Komponistenkarriere“ schreiben. Dieses wiederaufgelegte DVDPorträt findet sich in einer CD-Box von Bernsteins bekanntesten Werken, die seine ehemalige Studentin Marin Alsop am Pult verschiedener Orchester in den letzten Jahren aufgenommen hat. Und ob es nun die drei Sinfonien sind, Highlights aus den Musical- Coups „West Side Story“ und „On The Waterfront“ oder Konzertantes wie das verkappte Violinkonzert „Serenade (After Plato´s Symposium)“: Sie alle spiegeln in ihren unterschiedlichsten Mischungsverhältnissen aus Jazz, Zwölftönigkeit, lateinamerikanischen Rhythmen und einer Tonalität im Breitwand-Sound jene Klangsprache wider, die unverkennbar „Bernstein“ ist. Ein selbstbewusst eingeschlagener, eigener Weg abseits aller Neue Musik-Moden. Dass er damit jedoch nicht nur beim großen Publikum ankam, sondern auch beim einflussreichen Komponistenkollegen Luciano Berio, bestätigt Alsops Weltersteinspielung eines „Bouquets“, das 1988 zehn Komponisten (neben Berio auch Lukas Foss und Toru Takemitsu) Bernstein zum 80. überreichten.

Ich glaube an das Fis!

Wie Alsop im Interview bekennt, ist Bernsteins „Mass“ ihr absolutes Lieblingswerk. Und diese nach dem Vorbild einer lateinischen Messe komponierte und auch mit Rock-Rhythmen, Blues- Farben und Pop-Melodien gespickte Partitur hat nun Yannick Nézet-Séguin mit dem Philadelphia Orchestra und mehreren Chören in einem Live-Mitschnitt herausgebracht. Als „Theaterstück“ bezeichnete Bernstein das 1971 uraufgeführte Stück, in dem er sich kritisch mit religiösem Dogmatismus auseinandersetzte (wobei die Frage nach dem richtigen Glauben zwischendurch augenzwinkernd die Musik erreicht – mit dem Bekenntnis: „Ich glaube an ein ‚Fis‘, ich glaube an das ‚G‘ “). Nun besitzt das Stück nicht gerade wenige Momente, in denen es haarscharf an einer Gottesdienst-Revue vorbeischrammt. Andererseits lassen Orchester, Solisten und Choristen keinen Zweifel daran, dass dieser musikalische Eklektizismus quasi zur DNA amerikanischer Musiker gehört. Und so geht es bei der Aufnahme herzzerreißend melosselig und dann wieder derart mit Schmiss zur Sache, als ob eine von Bernsteins Idol Charles Ives dirigierte Marching-Band gerade freudig durch den Konzertsaal stampfen würde.
Apropos Ives: Dieser Vater der amerikanischen Musik spielte natürlich auch in Bernsteins atemberaubender Diskografie als Dirigent immer wieder eine Rolle. Dessen 2. Sinfonie findet sich jeweils auch in den Schwergewichtsboxen jener beiden Labels, die damit ihren einstigen Exklusivkünstler zum 100. Geburtstag durchaus spektakulär würdigen. Die Sony-Box, die 100 Schallplattenaufnahmen aus dem Zeitraum 1950 bis 1972 vereint, spiegelt die fruchtbare Zusammenarbeit vor allem mit den New Yorker Philharmonikern wider. 1971 legte der Operndirigent Bernstein mit den Wiener Philharmonikern einen „Rosenkavalier“ vor, mit dem nur noch Carlos Kleibers Einspielung konkurrieren kann. Der Opernschmaus de Luxe in der DGBox ist hingegen Wagners „Tristan“ mit Hildegard Behrens und Peter Hofmann. Weitere Höhepunkte bilden hier die kompletten Beethoven-, Brahms- und Mahler-Sinfonien auf CD und DVD. Was für eine Wiederentdeckung sind die Anfang der 1950er Jahre entstandenen Aufnahmen mit dem New York Stadium Symphony Orchestra, in denen Bernstein Repertoire- Klassiker dirigiert und zugleich mit seinem Witz und Charme unnachahmlich erläutert (1987 tat er dies übrigens auch im Rahmen einer Aufführung von Ives´ Zweiter dank Teleprompter in Deutsch!).
Das Bernstein-Jahr 2018 hat aber nicht allein mit diesen Veröffentlichungen bereits seinen Höhepunkt erreicht. Ebenfalls großen und funkelnden Spaß machen die von Dirigent Christian Lindberg mit Höchstdrive eingespielten Klassiker von der „Candide“-Ouvertüre“ bis zu den „Sinfonischen Tänzen aus der West Side Story“. Und die niederländische Geigerin Liza Ferschtman hätte für ihre beherzt schwungvolle Interpretation der an Strawinskis Violinkonzert erinnernden „Serenade“ garantiert zur Belohnung ein Küsschen vom Maestro bekommen. So wie im Grunde jeder, der in die Hände dieses Menschenfreunds geriet.

**Neu erschienen:**

Bernstein, der Dirigent:

Complete Recordings On Deutsche Grammophon & Decca (121 CDs + 36 DVDs)

DG/Universal

The Remastered Edition (100 CDs)

Sony

Bernstein, der Komponist:

„Mass“

Yannick Nézet-Séguin, Philadelphia Orchestra u.a.

DG/Universal

Bernstein On Broadway (Best Of)

Leonard Bernstein, José Carreras, Nicolai Gedda u.a.

DG/Universal

„Serenade (After Plato’s Symposium)“ + E.W. Korngold: Violinkonzert

Liza Ferschtman, Jiri Malát, Christian Vásquez, Het Gelders Orkest u.a.

Challenge/in-akustik

„On The Waterfront“

Christian Lindberg, Royal Liverpool Philharmonic Orchestra

BIS/Klassik Center Kassel

„Wonderful Town“

Simon Rattle, Birmingham Contemporary Music Group, Thomas Hampson u.a.

Warner

The Complete Naxos Recordings (8 CDs + 1 DVD)

Marin Alsop, Baltimore Symphony Orchestra, Bournemouth Symphony Orchestra u.a.

Naxos

Biografie:

Michael Horowitz: „Leonard Bernstein – Magier der Musik“ (240 S.)

Amalthea-Verlag

Auf Gottes Empfehlung

Gerade einmal 25 Jahre alt war Leonard Bernstein, als er im August 1943 von dem damaligen Leiter der New Yorker Philharmoniker, Artur Rodziński, zum Assistenzdirigenten berufen wurde. Begründet hatte Rodziński seine Entscheidung für dieses Ausnahmetalent mit den Worten: „Ich bin im Geiste alle Dirigenten durchgegangen, die ich kenne. Und schließlich habe ich Gott gefragt, wen ich nehmen soll, und Gott sagte: ‚Nimm Bernstein‘.“ Drei Monate später konnte der junge Dirigent diesen göttlichen Fingerzeig mit seinem spektakulären Debüt-Konzert rechtfertigen. Am 14. November sprang er für den erkrankten Dirigenten Bruno Walter ein und wurde nach dem Auftritt von der Kritik und dem Publikum gefeiert.

Guido Fischer, 31.03.2018, RONDO Ausgabe 2 / 2018



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