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N° 1354
20. - 29.04.2024

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am 27.04.2024



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Ganz neue Saiten aufziehen - Hammerflügel von J. G. Gröber Innsbruck um 1830.(c) Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Musiksammlung

Alte Musik

Pop oder Nische?

Nach sechzig Jahren neuerer Aufführungspraxis ist die Alte Musik in den Konzerthäusern der Welt zuhause. Oder nicht? Eine Standortbestimmung.

Lange vorbei sind die Zeiten, da sich 1957 ein Haufen Profimusiker in Wien mit ihren zusammengesammelten historischen Instrumenten zum Konzert einfanden. Die Gründung des Concentus Musicus durch Nikolaus Harnoncourt war eine Idee mit Sprengstoff für den Konzertbetrieb. Aber neu war sie nicht. Gut sechzig Jahre später ist, was fälschlich als „Originalklang- Bewegung“, geschraubt als „historisch informierte Aufführungspraxis“ oder schlichtweg „Alte Musik“ bezeichnet wird, im Konzertsaal fest verankert. Selbst die Orchester mittelgroßer Städte leihen sich für Mozart- Sinfonien Naturtrompeten und Lederschlegel, Ensembles wie „L’Arpeggiata“ füllen Säle mit schmissigem Ethno-Barock, und fast alle Monate steht ein neues Countertenor-Recital mit Arien in den Regalen. Ohne, dass sich dabei noch irgendwer ernsthaft über hohe Männerstimmen mokiert.
Aber ist das wirklich so? Während Händel-Opern in knallbunt-trashigen Inszenierungen seit langem in München oder Berlin spielend für ausverkauftes Haus sorgen, gähnen bei Mendelssohn-Klavierkonzerten eines weltberühmten Ensembles im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie erschreckend viele leere Reihen. So entsteht ein zweigeteiltes Bild: Ist Aufführungspraxis nun Pop oder Nische? Die Alte Musik, es gibt sie offenbar gar nicht.
Einerseits programmiert fast jedes Konzerthaus Angebote – vom vorweihnachtlichen Corelli-Keksteller bis hin zu ganzen Reihen mit Künstlern der Alten Musik wie in Wien. Wer in Zeiten und Stile eintauchen möchte, wird vor allem bei Festivals fündig. In Deutschland bieten sich Potsdam (siehe S. 28), Herne und Regensburg an, bei den Nachbarn die Festivals von Innsbruck (siehe S. 28), Utrecht, Brügge, Saintes oder Ambronay. In Versailles schlägt ein besonders kräftiges Herz für die (französische) Barockmusik, hier wird sowohl geforscht, als auch an royalem Ort musiziert. Und sommers lädt sogar ein Cembalist und Dirigent wie William Christie in seinen Privatgarten zu Serenaden (siehe S. 30).

Wachgeküsst

Angefangen hatte alles mit dem Unverständnis der Musiker vor alten Noten. Jedes Blatt warf mehr Fragen auf, als sich Antworten finden ließen. Nun sind die wilden Gründerzeiten der Pioniere zwar vorüber, da man am richtigen Ort unedierte Manuskripte barocker Großmeister mit Händen greifen, sichten und zur Aufführung bringen konnte. Doch abseits von Zufallsfunden hat sich, etwa im Falle des weltberühmten Unbekannten Antonio Vivaldi, die Aufgabe heutzutage auf die langwierige Arbeit verlagert, Lücken zu schließen und das als Bestand Erfasste allmählich in Notenausgaben zu bringen. Mit viel Glück (und dem nötigen Geld) werden dann Archivalien im Konzert und auf CD wieder zum Leben erweckt, wie das Beispiel der seit 20 Jahren laufenden Vivaldi- Edition des Labels naïve zeigt (siehe S. 22).
Auch Franz Gratl hat das Glück, den Notenschatz, den er verwaltet, in schöner Regelmäßigkeit zur Aufführung und anschließend auf CD an den Hörer zu bringen. Gratl ist Kustos der Musiksammlung im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum und beschäftigt sich auch eingehend mit dem für die Musik passenden Instrumentarium. Das können auch schon einmal historische Blechblasinstrumente des 19. Jahrhunderts sein, wie beim Oratorium des Südtiroler Komponisten Jakob Schgraffer, das Gratl mit dem Bläserensemble des Ferdinandeums auf dem hauseigenen Label MusikMuseum herausgebracht hat. Museal geht es dort ganz und gar nicht zu, vielmehr verlebendigt sich, was Gratl im Archiv an Musikschätzen sonst eher stumm verwahrt. Aktuell hinterfragte er auch die Rolle der Protagonisten in der Musikkultur, von damals bis heute (siehe S. 29).
Auch die Ausbildung ist einen Riesenschritt vorangekommen. Während die ersten Musiker an ihren Instrumenten oft noch verzweifelten, haben sich inzwischen an fast allen Musikhochschulen, darunter in Bremen, Freiburg, Salzburg und lange schon in Basel, Fakultäten gebildet, wo man alte Instrumente von der Pieke auf lernen kann. Und Studenten, die seit Kindertagen Gambenunterricht bekommen, sind keine Exoten mehr. Davon hätte Jordi Savall wahrscheinlich nicht einmal zu träumen gewagt. Eine Gefahr liegt allerdings darin, dass das Abenteuer Aufführungspraxis nicht mehr selbst erobert, sondern wohl portioniert gereicht wird. Die Besonderheit der eigenwilligen Forscherinterpreten früher Jahrzehnte ist aufgegangen in einer kleinen, aber gut vernetzten Branche spieltechnischer Allrounder. Spöttisch spricht man in der Szene von der „Camerata telefonica“, wenn unter verschiedensten Ensemblenamen und -leitern in Wahrheit die immer gleichen Musiker von Mucke zu Mucke reisen. Die Nachfrage bestimmt das Angebot, und schon fürchtet man eine Schwemme frühbarocker Streicherensembles, die auf ruppig-gestischen, aber stets rotweintauglichen Barock abonniert sind.
Doch abseits des Barock-Pop ist die Szene noch immer verästelt, eigenwillig und bunt gescheckt. Sie professionalisiert sich in der frühen Musik der Renaissance, wie die Capella de la Torre um Katharina Bäuml (siehe S. 18). Oder erobert in ihrer Neugier längst Musik bis weit ins 20. Jahrhundert. Da gibt es Streichquartette wie das Cuarteto Casals, die ohne viel Aufhebens mit verschiedenen Bögen reisen, um von Boccherini bis Bartók gerüstet zu sein (siehe S. 19). Chorleiter Philippe Herreweghe gründete sein eigenes Label, um seinen Hunger nach Sinfonien von Robert Schumann und Anton Bruckner stillen zu können, sein Kollege Paul McCreesh, Gründer des Gabrieli Consort, durchkämmte bereits Partituren von Berlioz und Britten, und Jos van Immerseel katapultiert sein Orchester Anima Eterna mit Dvořák und Gershwin bis in die Neue Welt. Die nächste Generation gehört den Allroundern, die sich zwischen den Stilen und Ensembles bewegen. Etwa Dirigent Pablo Heras-Casado, der bei Alter wie Neuer Musik gleichermaßen in der Wolle gefärbt erscheint. François-Xavier Roth, gewinnender Generalmusikdirektor des Kölner Gürzenich-Orchesters, bringt mit seinem eigenen Ensemble „Les Siècles“ Ravels Orchesterdichtungen schöner zum Leuchten als manches Sinfonieorchester – auf alten Instrumenten (siehe S. 56).
Die Frage ist also falsch gestellt. Alte Musik ist nicht Pop oder Nische, sondern bestenfalls in Balance zwischen beiden Polen. Und manchmal noch immer Avantgarde.

Die Geschichte im Spiegel der Fantasie

Der Wunsch, alte Zeiten musikalisch lebendig werden zu lassen, zieht sich durch die Musikgeschichte. Die Florentiner Camerata, eine Gruppe von Gelehrten und Poeten, wollte die Musik Griechenlands wiederbeleben, schuf dabei aber die Vorlage für den ariosen Gesang der gerade entstehenden Oper. Baron van Swieten stieß Haydn auf die Oratorien Händels, und Mozart auf die Fugen Bachs. Der erlebte seine Wiedergeburt aus dem Geist der Romantik unter Felix Mendelssohn (in leicht adaptierter Fassung). Doch erst im 20. Jahrhundert nahm der Wunsch Fahrt auf, sich nicht nur assoziativ, sondern forschend mit den Grundlagen früherer Epochen zu beschäftigen. Cellist August Wenzinger und Organist Josef Mertin waren Pioniere, denen Cembalist Gustav Leonhardt und Cellist Nikolaus Harnoncourt folgten. Der erteilte der alten Fantasie vom Originalklang mit dem Satz: „Ich kann nur authentischen Harnoncourt“ endgültig die Absage.

Carsten Hinrichs, 19.05.2018, RONDO Ausgabe 3 / 2018



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