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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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(c) Gregor Hohenberg/Sony

Leif Ove Andsnes

Transparenz und Temperament

Der norwegische Pianist legt eine luzide Einspielung von Chopins vier Balladen und drei seiner Nocturnes vor.

RONDO: Warum haben Sie sich für diese Kombination von den Balladen mit Nocturnes entschieden?

Leif Ove Andsnes: Die Balladen sind immer schon mein großes Projekt gewesen. Seit ich zwölf Jahre alt bin, liebe ich diese Stücke und habe sie auch regelmäßig gespielt. Nur mit der letzten habe ich ganz bewusst gewartet und sie erst vor fünf Jahren einstudiert. Für mich sind das wirklich unglaubliche Stücke, sie sind so etwas wie die Summe von Chopins Schaffen. Die Balladen sind derart konzentriert, so vollgesogen von der Tradition, jede eine komplexe emotionale Welt. Die Balladen sind der Höhepunkt der Romantik für das Klavier. Jede der Balladen erzählt eine große Geschichte.

RONDO: Und welche Rolle spielen die Nocturnes in der Dramaturgie dieser Einspielung?

Andsnes: Viele spielen die Balladen als einen Zyklus, auch im Konzert. Aber ich bin nicht überzeugt von dieser Idee, denn sie waren von Chopin nie als Zyklus gedacht.

RONDO: Weil jedes Stück für sich so stark ist?

Andsnes: Ja, jede Ballade ist so voller Kraft und Intensität, deshalb empfinde ich, dass man sie nicht im Block spielen kann, sondern dass sie unbedingt etwas dazwischen brauchen. Und so habe ich die drei Nocturnes gewählt. Natürlich sind die Nocturnes in gewisser Weise auch sehr intensive Stücke, aber sie sind insgesamt ruhiger in ihrem Puls, sie geben mir und dem Hörer so etwas wie ein Atemholen zwischen den Balladen.

RONDO: Was ist wichtiger beim Chopin-Spiel: Steht die Melodik im Vordergrund oder eher die Struktur, die Architektur der Komposition oder der Klang?

Andsnes: Das ist eine gute Frage! Aber sie ist unmöglich zu beantworten, denn es ist tatsächlich alles zur gleichen Zeit wichtig. Genau das ist es eben, was Chopin so schwierig macht, seine Komplexität! Viele Leute bemerken das kaum, sie hören bloß die schönen Melodien. Aber was diese Musik tatsächlich so unglaublich reich macht, ist die Gleichzeitigkeit, die Kombination von all diesen Dingen. Die Kombination einer faszinierenden Struktur, die sehr rhapsodisch wirken kann, aber tatsächlich ist er ein Meister im Schaffen von sehr spezifischen kompositorischen Strukturen. Man darf nicht vergessen, dass Chopin ein großer Liebhaber von Bach war! Er spielte jeden Tag Bach, und das spürt man. Vor allem in seinem späten Schaffen dachte Chopin mehr und mehr polyphon.

RONDO: Ein Beispiel?

Andsnes: Die vierte Ballade: Da passieren extrem komplizierte polyphone Dinge, das ist hoch komplex gedacht, auch was die Harmonien betrifft. Es ist meisterhaft. Das, was es zusätzlich schwierig macht, ist auch, dass diese Musik einfach niemals stehen bleibt, sie legt sich nicht fest, ist sozusagen immer vorübergehend. Sie kann sich wandeln zu einem ganz anderen Charakter im Bruchteil einer Sekunde. Und plötzlich ist man ganz woanders. Chopin lässt immer rätseln und überrascht ständig.

RONDO: Wie kann man diese Eigenschaft des Uneindeutigen musikhistorisch einordnen?

Andsnes: Wenn man das beispielsweise am Rang und Erbe Beethovens misst: Bei ihm hat jede Phrase eine Bedeutung und ein Ziel, sie sucht in eine Richtung und findet zur Bejahung, zum Triumph, einer Überzeugung oder auch nur zu einer eindeutigen Antwort. Man weiß immer, wo er hin will. Aber Chopin ist viel schwerer fassbar und ja, vage. Ähnlich wie später Debussy, Chopin geht in diese Richtung. Bei ihm ist nichts offensichtlich.

RONDO: Wie frei fühlen Sie sich bei Chopin hinsichtlich der Tempi und der Rubati?

Andsnes: Das ist eine weitere Schwierigkeit, denn in bestimmter Weise ist er eigentlich auch noch sehr klassisch! Wenn ich Chopin mit Schumann und seiner verrückten Fantasie vergleiche, dann ist der große Unterschied zwischen beiden, dass Schumanns Musik nicht so schnell zu zerstören ist, wenn man extravagante Sachen macht hinsichtlich der Tempi oder Rubati.

RONDO: Aber Chopin kann man leicht zerstören durch zu viele Rubati?

Andsnes: Absolut! Sehr leicht sogar, denke ich! Denn Chopin hat diesen Klassizismus. Er wurde ja nicht ohne Grund als der „Mozart des 19. Jahrhunderts“ bezeichnet! Aber, und hier sind wir wieder bei den Schwierigkeiten der Gleichzeitigkeit: Chopin braucht trotzdem eine extrem freie und romantische Haltung, gerade bei den Melodien und dem Geschmack der Harmonien. Es ist wiederum eine Frage der Balance. Man kann nicht jedes Mal innehalten, wenn sich eine schöne Blüte in seiner Musik zeigt, denn dann kann man regelrecht seekrank werden von dieser Musik. Da ist so viel Schönheit überall, aber man kommt nirgendwo an, wenn man an jeder Blüte riecht! Aber jede Blüte muss da sein.

RONDO: Ihr Chopin klingt ungewöhnlich klar und durchhörbar, er trieft nicht. Um ein Klischee zu bemühen: Ist das Chopin in nordischem Licht?

Andsnes: Ob das mit nordischem Licht zu tun hat? Weiß nicht, aber ich denke, Transparenz ist sehr wichtig für Chopin. Und was den Klang angeht, muss man bei einem modernen Flügel vorsichtig sein, um die Musik nicht zu überwältigen mit einem Übermaß an strömendem Klang, auch im Bass. Ich denke, er wollte unbedingt Klarheit und Transparenz. Das wird ja auch über sein eigenes Spiel berichtet, er spielte nicht zufällig immer nur in kleinen Räumen. Auf der anderen Seite ist natürlich nichts klein an dieser Musik, er hat ein viel größeres Temperament, als viele Leute denken. Zum Beispiel schreibt er am Ende der ersten Ballade „so laut wie möglich“. Chopin hat häufig einen furiosen Zorn in seiner Musik. Dennoch denke ich generell, dass Transparenz sehr wichtig ist bei Chopin.

RONDO: Haben Sie Chopin schon einmal auf einem historischen Instrument gespielt?

Andsnes: Ja, viele Male. Ich habe etwa auf einem Pleyel-Flügel von 1860 gespielt. Auch durch diese Erfahrung habe ich realisiert, wie wichtig die Transparenz ist und dass man auch in verschiedenen Klang-Registern denken muss.

RONDO: Aber Sie ziehen moderne Instrumente vor?

Andsnes: Moderne Instrumente haben mehr Möglichkeiten hinsichtlich der Farben und der Dynamik, und heute in den großen Sälen geht es aus meiner Sicht gar nicht anders. Außerdem ist meine Technik ausgerichtet auf die modernen Instrumente.

RONDO: Werden Sie sich noch mehr mit Chopin auseinandersetzen in der Zukunft?

Andsnes: Ich hoffe es, aber ich kann es noch nicht genau sagen. Er wird für mich als Komponist immer wichtiger. Kein anderer Komponist kommt mir auf diese Weise so nah. Es ist für mich eine Form von Bekenntnis. Er ist in der Lage, Gefühlen von Trauer und Einsamkeit Gestalt zu geben, und das ist sehr besonders. Wenn ich Chopin spiele, schließe ich mich ab von der Welt, ich kann völlig allein sein mit dieser Musik und absolut glücklich darin, und das ist dann alles, was zählt.

Neu erschienen:

Frédéric Chopin

Balladen und Nocturnes

Leif Ove Andsnes

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Leif Ove Andsnes

wurde 1970 im norwegischen Karmøy geboren und studierte am Musikkonservatorium in Bergen, wo er heute lebt. 1989 begann Andsnes’ internationale Karriere mit Auftritten in New York und Washington D.C., seither arbeitet er mit den bedeutenden Orchestern von den Berliner Philharmonikern bis zum Los Angeles Philharmonic zusammen. Immer wieder hat er auch selbst zum Taktstock gegriffen, wie etwa bei seinem „Beethoven Journey“-Projekt, in dessen Rahmen er von 2012 bis 2015 sämtliche Klavierkonzerte des Komponisten mit dem Mahler Chamber Orchestra in 27 Ländern zur Aufführung brachte. Sein Repertoire reicht vom 18. Jahrhundert bis zu den Zeitgenossen.

Regine Müller, 22.09.2018, RONDO Ausgabe 4 / 2018



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