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N° 1353
13. - 21.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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(c) pixabay

Musikstadt

Cremona

Die lombardische Stadt hat zwar „nur“ den zweithöchsten Campanile Italiens, aber dafür auch ein anerkanntes Welterbe: den Geigenbau.

Wir schreiben den Beginn des 16. Jahrhunderts. Da verzeichnet die Landkarte einen kleinen roten Punkt in Oberitalien. Und dann geschieht lange gar nichts. Ein paar weitere Punkte in der Nähe folgen, schnell auch Deutschland, Paris, St. Petersburg, bis sie sich bis zum zweiten Weltkrieg zu einer Epidemie auswachsen. Hätte das erst vor fünf Jahren in seiner jetzigen, didaktisch spannenden Form eröffnete Geigenbau-Museum in Cremona nicht auch einen unbezahlbaren Schatz historischer Instrumente in seiner effektvollen, aber auf das Wesentliche konzentrierten Schatzkammer vorzuweisen – diese gigantische Weltkarte wäre ebenfalls eine Attraktion. Denn hier sieht man sinnfällig, wie in diesem kleinen Ort (70.000 Einwohner) am Po etwas seinen Anfang nimmt, das man im Jahr 2012 als UNESCOWelterbe nobilitiert hat: das bis heute hier handwerklich kaum verändert praktizierte Wissen um den Bau von Streichinstrumenten.
Das hat – angesichts der als Investition rüde emporschießenden Fantasiepreise für die Spitzenstücke aus den Geigenbauerfamilien Stradivari und Guarneri – natürlich viel mit Mythenbildung zu tun, aber es bleibt eben doch ein wahrer Holzkern. Gute Geigen gibt es auch aus Mittenwald und den USA, aber ein neues Instrument von einem der mittlerweile ca. 150 wieder hier ansässigen Geigenbauer ist eben doch noch etwas Besonderes. „Vor allem Käufer aus Fernost wissen diese Herkunft zu schätzen“, erzählt einer von ihnen, Stefano Trabucchi, der gerade von einer Messe aus Shanghai zurückgekehrt ist.
Geigen aus Cremona. Das lässt sich wirklich dingfest machen: Mit Andrea Amati (1505–77), begann diese Bauertradition. Er verwendete ausgewählteres Holz, als es bisher für die Instrumentenverfertigung üblich gewesen war, und veränderte die spitze Gambenform zu dem der heutigen Violinform ähnelnden Modell. Er hat die Geige also nicht erfunden, aber er hat sie zur bis heute gültigen Gestalt optimiert, auch dank der Herstellungsweise.

Frühe Blüte

Cremona wurde 218 v. Chr., im selben Jahr wie das nahe Piacenza, von den Römern als Vorposten Kremun gegen die gallischen Stämme gegründet. Bald war es eine der blühendsten Städte Norditaliens. Bis es im Jahr 69 von den Truppen des zukünftigen Kaisers Vespasian zerstört wurde. Später kamen die Langobarden, im 9. Jahrhundert scheinen die Bischöfe erhebliche weltliche Macht erlangt zu haben. In den Auseinandersetzungen zwischen Guelfen und Ghibellinen stellte sich das traditionell kaisertreue Cremona auf die Seite der Ghibellinen und fügte Parma 1250 eine entscheidende Niederlage zu. Die schönsten Gebäude Cremonas stammen aus dieser Zeit.
Die da sind: der herrliche Dom mit seiner harmonischen Romanikfassade, in dem sich freilich innen auch die Barockelemente gut einfügen; das nicht vollendete Baptisterium, gegenüber der Palazzo Comunale und die Loggia dei Militi, die den Hauptplatz säumen. Besonders aber der freistehende Campanile, Torrazzo genannt, mit 112 Metern bis ins 20. Jahrhundert der höchste Italiens. Der ragt so weit in die Luft der Poebene, dass er beim hier oft anzutreffenden Nebel nicht mehr ganz zu sehen ist. Was den romantisch-melancholischen Eindruck der Stadt noch verstärkt, wenn scheinbar jedes Geräusch in den stimmungsvollen Gassen geschluckt wird. Dann verschwinden die Einheimischen in der Dämmerung gern in einer der vielen hübschen Bars von edel bis rustikal, laben sich am Culatello, einem besonders feinen Schinken, am Parmeggiano und an den sprudelnden Weinen, die für diese Gegend typisch sind.
Weiter in der Historie: Es kamen die Visconti, die Venezianer, die Sforza, die Franzosen, Deutschen, Habsburger. 1861 wurde Cremona Teil des neuerrichteten Königreichs Italien. Doch die Geigenbautradition verkümmerte, wanderte in die nahe Metropole Mailand ab. Erst nach dem zweiten Weltkrieg blühte sie wieder auf, aber es dauerte noch, bis die Stadt endlich erkannte, was für einen unique selling point sie damit zurückerhalten hatte.
Und es brauchte das 2012 im von den Faschisten begonnenen Palazzo dell’Arte eröffnete Geigenbaumuseum, um dafür interessierte Besucher aus aller Welt anzulocken. Die von der Fondazione Arvedi Buschini getragene Institution ist ein sehr lebendiges Museum (mit einem vorzüglichen Restaurant), auch dank des von Yasuhisa Toyota akustisch betreuten, dem Inneren einer Violine nachgebildeten Konzertsaals für knapp 500 Zuhörer. Hier gibt sich die Crème de la Crème der Geiger samt ihrer Stradivaris die Klinke in die Hand: Die emotionalen Bande, die von diesen Instrumenten ausgehen, sind eben sehr stark.
Da kann man noch so sehr vom unerwartet reichhaltigen Museum der Bildenden Künste schwärmen, einer einen umfassenden Überblick über die lombardische Schule gewährenden Pinakothek (samt auswärtigem Caravaggio) oder vom schön verschnörkelten Teatro Ponchielli (der „La Gioconda“-Komponist ist Cremoneser) oder auch von der Accademia Walter Stauffer, die sich exzellent um junge Streicher kümmert. Den stärksten Eindruck hinterlässt eben doch, wenn das hier lehrende Quartetto di Cremona, vor kurzem ausgestattet mit dem Paganini-Stradivarisatz der Nippon Foundation, im Museumssaal konzertiert. Das ist lebendige Cremoneser Vergangenheit – Musikgeschichte und Gegenwart zugleich.

www.turismocremona.it/en

Glücks-Kleeblatt

Lange hat es gedauert, Geburtshaus und Grab Antonio Stradivaris (samt Dominikanerkirche) wurden zerstört, die Geigenbauer waren fast alle abgewandert. Inzwischen hat die Kommune Cremona den Wert dieser Handwerkstradition erkannt. Und zum diesem Zweck das hier bei Salvatore Accardo ausgebildete und heute unterrichtende, in Genua lebende Quartetto di Cremona zum Kulturbotschafter des Geigenbaus, der liuteria, ernannt. Richtig so, sind die vier der 2000 geründeten, seit 2002 in der gegenwärtigen Formation spielenden Herren Cristiano Gualco, Paolo Andreoli, Simone Gramaglia und Giovanni Scaglione doch das führende Streicherkleeblatt Italiens. Nachzuhören etwa auf ihrer exzellenten Gesamtaufnahme der Beethoven-Streichquartette (8 SACDs, audite/Note 1).

Matthias Siehler, 08.12.2018, RONDO Ausgabe 6 / 2018



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