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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Jean Guillou † (c) Schott Music, Mainz

Pasticcio

Der Orgel-Maître

Jean Guillous Arbeitsplatz war wirklich musikgeschichtsträchtig. Hier weinte Mozart um seine tote Mutter. Eine Gedenkbüste erinnert an Jean-Philippe Rameau. Und im 19. Jahrhundert stellten Franz Liszt und Hector Berlioz hier einige ihrer großen Sakral-Werke erstmalig der Öffentlichkeit vor. Saint-Eustache heißt die jüngst von allem Smog gesandstrahlte Kirche, die mitten im Herzen von Paris liegt. Nur einen Tomatenwurf entfernt von den längst untergegangenen, alten Markthallen, die mittlerweile nacheinander durch zwei architektonische Sünden ersetzt worden sind. In dem musikhistorisch bedeutenden Sakralbau, in Saint-Eustache, verrichtete Jean Guillou seit 1963 seinen Job als Titularorganist. Er spielte zum Gottesdienst auf und gab Orgelkonzerte (zumeist Sonntags gegen 17:30 Uhr und gratis!), er komponierte und sorgte sich zwischendurch natürlich um den Allgemeinzustand sowie die Stimmungsschwankungen seines Instruments.
Doch der aus Angers stammende Jean Victor Arthur Guillou war im Gegensatz zu seinen ganzen namhaften Pariser Kollegen etwa von St. Trinité oder St. Clothilde mehr als nur ein pflichtbewusster Angestellter des Herrn. Der Mann mit dem schlohweißen, elegant gefönten Haarkranz war von der Orgel derart besessen und begeistert, dass er sie inzwischen sogar in die Luft sprengen wollte. „Jedes ihrer Einzelteile, ihre Register und Pfeifen, könnte man so mitten ins Publikum fegen.“ Guillou rief damit natürlich sofort jene berühmte Zerstörungslust in Erinnerung, mit der Frankreichs allmächtigster Komponist und Dirigent Pierre Boulez schon mal die Opernhäuser in Schutt und Asche legen wollte. Boulez` Gewaltphantasie war damals selbstverständlich nur als Aufforderung gemeint, endlich mit dem konfektionierten Opernbetrieb aufzuräumen. Und auch Guillou wollte jetzt mit seiner radikalen Androhung nur einen überfälligen Rollenwechsel der Orgel provozieren. Denn lange genug hatte sich für ihn die Orgel zu einem Kirchen-Instrument entwickelt, das mit seinen monströsen Ausmaßen und Klängen die ehrfürchtige Gemeinde im Griff hat.
Solche ketzerischen Gedankengänge sollten eigentlich für seinen Brötchengeber ausreichen, ihn zu feuern. „Ich habe wohl bald ein knappes Dutzend Priester überlebt“, bemerkte Guillou einmal in einem Interview. „Sie waren alle sehr nett zu mir und wussten, dass die Musik in dieser Kirche einen sehr hohen Stellenwert besitzt. Sie haben mich meine Musik spielen lassen.“ Zumal sie wohl auch wussten, dass es im Grunde keinen besseren Botschafter von Saint-Eustache geben konnte als ihn.
Als Virtuose reiste er weltweit umher, um nicht nur mit Bach, sondern mit eigenen Transkriptionen und Improvisationen zu verblüffen. Sein Buch „Die Orgel - Erinnerung und Vision“ gilt als Standardwerk. Und neben seiner jahrzehntelangen Lehrertätigkeit entwickelte der Schüler des Heiligen Orgeldreigestirns Marcel Dupré – Olivier Messiaen – Maurice Duruflé den Orgelbau ständig weiter. Ob in Zürich, Brüssel oder Neapel, ob in den luftigen Tour de France-Höhen von Alpe d`Huez oder in Saint-Eustache – überall entstanden unter seiner Aufsicht Instrumente mit ungeahnt neuen Spielmöglichkeiten. Nicht zuletzt mit der Orgel, die in dem von Star-Architekt Santiago Calatrava auf Teneriffa gebauten Konzertsaal 2005 eingeweiht wurde, konnte Guillou schon mal gewaltig an den Aufführungs- und Hörgewohnheiten kratzen. Auf gleich zwölf Klangkörper hat Guillou die Orgel im Raum verteilen lassen. Mit ausreichend Platz und Tastaturen für ein insgesamt neunköpfiges Organisten-Orchester.
Seit vielen Jahrzehnten trieben ihn solche Pläne um, mit denen er die Orgel als ein vielseitiges und vor allem dialogbereites Instrument rehabilitieren wollte. In Anlehnung an Platons Symposien organisierte er etwa in Saint-Eustache konzertante Gesprächsrunden. Mal tauschte er sich an der Orgel mit einem Pianisten, einem Violinisten oder Cellisten aus. Oder er ließ die Tasten springen und die Pfeifen glühen, in Performances mit Pantomimen, Tänzern oder Malern. Um aber die Orgel endgültig aus ihrem Nischendasein als liturgischer Dominator herauszuholen und unter die Menschen zu bringen, hatte sich Guillou in ein Großprojekt besonders verbissen. Mit der Bonner Orgelbau-Werkstatt Klais plante er ein transportables Instrument, das zerlegt in jeden LKW passt und sich innerhalb von zwei Stunden überall wieder aufbauen lässt. Ob auf der grünen Wiese oder auf einem Marktplatz.
Leider konnte dieses Projekt aber nie realisiert werden. Dabei war Guillou bis ins hohe Alter ein Workaholic und immerhin bis 2015 an Saint-Eustache Titularorganist. Nun ist er 88-Jährig in Paris verstorben.

Guido Fischer



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