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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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(c) Felix Broede

Igor Levit

Ich darf, ich muss.

Es gibt bereits 70 Gesamtaufnahmen von Beethovens Klaviersonaten, von Annie Fischer bis Ronald Brautigam. Dies hier ist die 71.

Sonntagmorgen, das Literaturhaus München lädt ein zur Matinee. Erst eine Lesung, dann eine Sonate. Dann sprechen wir über Beethoven. Warum noch eine weitere Gesamtaufnahme aller 32 Klaviersonaten – muss das sein? Igor Levit, wie aus der Pistole geschossen, sagt erst: „Nein!“ Dann: „Ja!“ Und geht zum Gegenangriff über: Diese Frage müsse er zurückweisen, eine „zutiefst feuilletonistische Frage“, reine Rhetorik. „Für mich ist das nicht sonderlich relevant. Atmen und essen muss der Mensch. Alles andere muss nicht sein. Aber ich … ich möchte, ich darf, ich muss!“ Das Publikum applaudiert begeistert. Dieser Satz hört sich echt beethovensch an.
Levit ist aber noch lange nicht fertig. Er ist einer der wenigen Pianisten, die zugleich Rhetoriker aus Leidenschaft sind. Und er liest, obwohl Digital Native, trotzdem immer noch täglich Zeitung, auch die Feuilletonseiten, in der Printausgabe. Er liebt Superlative, Diskurse, steile Thesen. These Nummer eins: „Es ist doch so: Jeder hat den Wunsch, einmal alle Beethovensonaten zu spielen!“ Wirklich jeder? Jede?
Diesmal wird nicht applaudiert. Obwohl doch sicher im Publikum etliche Musikliebhaber sitzen, die ein bisschen Klavier spielen für den Hausgebrauch und heimlich davon träumen, endlich einmal einen mittleren Beethoven spielen zu können, so, dass man ihn wiedererkennt. Wie muss es da erst in den Herzen der professionellen Pianisten aussehen? Levit erinnert sich: „Der Intendant der Düsseldorfer Tonhalle, Michael Becker, war der erste, der mir das anbot. Ich habe damals sofort zugesagt und das dann drei- oder viermal verschoben, erst 2015, 2016 habe ich dann zum ersten Mal alle 32 Sonaten in Düsseldorf öffentlich gespielt. Einige Sonaten hatte ich neu einstudiert. Das war grenzwertig, ein Zyklus auf Speed. Anstrengend! Ich erinnere mich genau! Es hat mir viel über mich selbst beigebracht. Und genau so scharf kann ich mich daran erinnern, wie es war, als ich meine erste Hammerklaviersonate gespielt habe, in Finsterwalde. Und mein erstes Mal op. 111, in Weimar, wo es mich im ersten Satz so biblisch beinahe aus der Kurve getragen hat, dass mir heute noch die Flatter geht.“
Ist es dieses Über-die-Grenze gehen, das Beethoven so zeitlos aktuell, seine Sonaten so unverwüstlich attraktiv macht? Ehrlich gesagt gibt es ja in der Klavierliteratur Einiges, was in pianistischtechnischer Hinsicht größere Herausforderung bietet. Erst nach Beethoven ging es richtig los mit dem blanken, sportlichen Virtuosentum. Er selbst war zwar in erster Linie zunächst Pianist, berühmt für seine fantastischen Improvisationen. Aber er schrieb seine Sonaten doch jeweils für die Instrumente seiner Zeit und deren Möglichkeiten. Seine ersten drei, die man noch nicht zum Korpus der 32 rechnet, weil sie noch keine Opuszahl tragen, komponierte er am Clavichord. Seine letzte an einem Broadwoodflügel. Im Zeitraum von 1782 bis 1821 hatte sich der Klavierbau explosionsartig weiterentwickelt, die Beethoven-Sonaten spiegeln, bis hin zum Ambitus und bis zu Pedaleffekten, diese Entwicklung wider. Levit teilt Beethovens Sonatenschaffen in zwei Hälften auf. Seine steile These Nummer zwei lautet: „Die Waldsteinsonate ist das revolutionärste Musikstück überhaupt. Sie ist die Weggabelung, sie hat das Klavierspiel unwiederbringlich verändert. Es gibt eine Zeit vor op. 53 und nach op. 53. Dabei liegt die Herausforderung an die Pianisten nicht nur Beetim Technischen, sondern auch im Anspruch. In der orchestralen Idee, der Farbigkeit, der Erzählweise, in der Stärke des eigenen Ichs, auch der Pedalisierung, der Dynamik. Beethoven verlangt in der Waldsteinsonate das dreifache Pianissimo. Das Stück zeigt uns, was dieses Instrument alles kann oder vielmehr noch nicht kann, aber eines Tages können wird. Und mit der Hammerklaviersonate werden dann die Grenzen des Instrumentes gesprengt. Sie sprengt die Hör-Grenzen des Hörers, die Spiel-Grenzen des Spielers und die physischen Grenzen des Instruments. Heute noch!“

Wort für Wort spielen

„Heute“ ist ein Schlüsselwort für Levits individuelle Spielkultur. Er ist, so sagt er das von sich selbst, „ein Heute-Mensch“. Erstens, weil er sich nicht kunstvoll einkleiden möchte in historische Argumente, die mit seinem eigenen Leben heutzutage nichts zu tun haben. Zweitens, weil die großen Werke der Vergangenheit, weil sie Größe haben, letzten Endes „zeitlos“ sind. Steile These Nummer drei: „Ich spiele als Heute-Mensch Klavier- Musik von heute für heutige Menschen.“ Beethoven habe mit seinen Sonaten Zukunftsmusik geschrieben. Das ist eine Setzung, die allerdings im Detail, was Phrasierung- und Dynamikfragen angeht, doch von den Erkenntnissen der Period Player unter den Pianisten profitiert. Mit einem von ihnen, Andreas Staier, verbindet Levit eine alte Freundschaft. Trotz alledem: Er hat keine historischen Hammerflügel zu Hause herumstehen. Er reist auch nicht mit eigenen Klavieren im Tross durch die Lande, sondern spielt grundsätzlich auf dem, was ihm der Konzertveranstalter hinstellt. In aller Regel: ein Steinway. „Damit arrangiere ich mich, darauf versuche ich einzugehen. Im besten Falle freunde ich mich mit dem Instrument an.“

Und was, wenn der Steinway anfängt zu singen?

Es heißt, Beethoven habe als Pianist vor allem pianistisch gedacht und instrumental komponiert. Das ist eine der beliebtesten Thesen aus der großen Kiste mit Beethovenkitsch: Er habe nicht für Stimme komponieren können. Auch etliche Chorsänger der Neunten würden das unterschreiben. Aber diese Behauptung steht in krassem Widerspruch zu den sanglichen Melodien, die er erfand. Auch fürs Klavier. Levit differenziert: „Ich denke: Beethovens Gesanglichkeit ist eine ganz andere als die von Schubert. Es gibt Klaviersonaten, zum Beispiel die in Es-Dur, op. 7, die übrigens noch länger ist als die Hammerklaviersonate: Da findet sich im ganzen ersten Satz, der ungeheuer virtuos ist, keine einzige Melodie, die zu Ende geführt wird. Nur Gesten. Fragmente. Es gibt andere Beethovensonaten, in denen das Klavier spricht: Es deklamiert, wie in einem Rezitativ, so dass man Ton für Ton aussprechen muss, als sei es Wort für Wort. Und dann gibt es drittens eben auch Gesangsmelodien: Arien und Ariosi, wie den Klagegesang in op. 110. Oder Volksmelodien, zum mitsingen, zum mittanzen. Oder nehmen wir zum Beispiel den Liederzyklus ‚An die ferne Geliebte‘. Da singt das Klavier, und die Stimme spricht. Wunderbar.“

Neu erschienen:

Beethoven

Sämtliche Klaviersonaten (9 CDs)

Igor Levit

Sony

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Aussortierter Kurfürst

Und warum fehlen auch in dieser Gesamteinspielung die drei Jugend-Sonaten Beethovens, genannt „Kurfürsten- Sonaten“? Sie wurden, weil sie noch keine Opuszahl haben, frühzeitig aussortiert aus dem heiligen Kanon der 32 Sonaten, dem „neuen Testament der Klaviermusik“, wie Hans von Bülow ihn nannte. Musikalisch gehören sie, nach heutigen Kenntnissen, dazu. Es gibt Spuren darin, die zu den späteren Sonaten führen. „Ich habe, wenn ich ehrlich bin, nicht rechtzeitig daran gedacht“, sagt Igor Levit: „Tut mir leid. Die Plattenfirma wird froh sein zu hören, dass ich gern noch einen weiteren Aufnahmetag hätte!“

Eleonore Büning, 21.09.2019, RONDO Ausgabe 4 / 2019



Kommentare

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gemihaus
Beethovenkitsch fragwürdiger Thesen? Nunja, bekanntermassen war Beethoven ja auch ein versierter Pianist, der eben viel für sein Instrument, für Streicher und Orchester komponiert hat und vergleichsweise wenig für Gesang. Kein Grund zur Aufregung. Ich erwarte eher eine Sichtung und Rezension der Madame Eleonore als Expertin von der Gesamtinterpretation ihres so früh hochgepriesenen Pianisten.


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