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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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(c) Luigi Beverelli

Wynton Marsalis

Ein Monster von einem Stück

Der Jazz-Trompeter gewann Grammys für Klassikund Jazzeinspielungen. Sein neuestes Werk: ein Violinkonzert für Nicola Benedetti.

Der Jazz braucht einen Richard Wagner“, verkündete der Produzent und Posaunist Delfeayo Marsalis 1993 und meinte damit seinen Bruder Wynton. Der hatte gerade die Ballettsuite „Citi Movement“ und das abendfüllende Gospel- Oratorium „In This House, On This Morning“ komponiert und die Oper „Blood On The Fields“ vorbereitet – allesamt größere Werke im Jazz-Idiom, in denen er aus seiner profunden Kenntnis der Jazzgeschichte schöpfte.
Weil ihm das nicht reichte, wechselte er 1999 mit dem Streichquartett „At The Octoroon Balls“ und „A Fiddler’s Tale Suite“ das Genre – beide Werke stehen als Kammermusiken in der Traditionslinie der Klassik. „Beethoven, Wagner, Strawinski sind Meister. Es klingt gut, was sie machen“, sagte er damals und wusste genau: Von nichts kommt nichts. Um dem Genre gewachsen zu sein, hatte er – immerhin schon ein Weltstar – Kompositionsunterricht genommen und unter Anleitung Partituren von Dmitri Schostakowitsch und anderen analysiert. „Wenn du versuchst, etwas in der Art wie sie zu machen, dann brauchst du viel Zeit, um deinen eigenen Weg zu finden, damit das nicht amateurhaft klingt.“
Das fast zweistündige „All Rise“ aus dem Jahr 2002, sein erstes Werk für Sinfonie-Orchester, Jazz-Orchester und Chor, erinnerte über weite Strecken noch an Show- und Filmorchester – inzwischen hat er das Werk als Sinfonie Nr. 1 in sein OEuvre eingeordnet. Bei den drei folgenden Großwerken für Bigband und Orchester – „Blues Symphony“, „Swing Symphony“ und „Jungle“ – ist seine Orchestersprache bereits weiter entwickelt.

Zwei Welten

Als ihn die Geigerin Nicola Benedetti zu Beginn des Jahrzehnts um ein Stück bat, sagte Wynton Marsalis zu. „Ursprünglich sollte es ein kurzes Solostück werden“, erzählt Nicola Benedetti. Doch im Lauf der Gespräche entstand die Idee zu einem Violinkonzert mit der üblichen Unterteilung in vier Sätze.
„Ich habe so viel Respekt vor dieser Tradition“, sagt Wynton Marsalis. „Ich wollte das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Wenn ich ein Stück schreibe, habe ich Tag und Nacht den Druck.“ Das liegt an den eigenen Ansprüchen und an der Fülle der Aufgaben, die er sich aufgebürdet hat: regelmäßige Jazzkonzerte mit der eigenen Band, Leitung des Lincoln Center Jazz Orchestra, Leitung der Jazzabteilung am Lincoln Center, pädagogische Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und jungen Musikern, Vorträge.
„Ich unterteile die Musik nicht so sehr in Stile“, betont er. „Die klassische Musik stand für mich nie als Gegensatz zum Jazz. Nicht nur eine Person ist kreativ. Oder eine Gruppe von Leuten. Wir sind alle kreativ. Wir können große Dinge erreichen, wenn wir nicht miteinander kämpfen, sondern miteinander im Dialog stehen, uns austauschen und streiten und dann wieder zusammenkommen.“
Eins wusste er auch: Es würde nicht einfach werden, ein Violinkonzert zu schreiben, das Nicola Benedetti gerecht wird. Denn die in Schottland geborene Geigenvirtuosin stammt aus dem – so Marsalis humorvoll – „anglo-keltischen Kulturraum. Der bietet die Grundlage für die Melodien und Harmonien. Dazu kommen von meiner Seite die afrikanischen und afro-amerikanischen Rhythmen und die Wurzeln im Blues.“ Insofern ahnte er schon, bevor die erste Note auf dem Papier stand: „Nicola hat sehr viel Leidenschaft und Energie in ihrem Spiel. Für mich war es die Herausforderung, in technischer Hinsicht so anspruchsvoll zu schreiben, wie sie es gewohnt war. Andererseits komme ich aus einer anderen Tradition, in die sie sich erst hereinfinden muss. Wenn jemand 99 Prozent seiner Zeit Musik ohne Blues spielt, fällt es schwer, eine bluesige Aussage zu treffen und die Violine so zu spielen, dass sie groovt.“
Tatsächlich musste er Nicola Benedetti anfangs erklären, wie sie synkopieren und den Klang der Töne ziehen muss, wie einzelne Tonfolgen ihre metronomische Strenge verlieren und zu swingen beginnen. „Auf eine gewisse Art war mir das alles fremd“, stimmt sie zu. „Ein Monster von einem Stück. Es verlangt, dass ich jede Farbe, jeden Klang, jeden Ausdruck verstehe.“
Da andererseits Wynton Marsalis spürte, wo ihre Probleme lagen, schrieb er einzelne Passagen um – von ihrem Part im ersten Satz existieren acht Versionen. Das nervte sie so sehr, dass sie sich nur noch eines wünschte: Dass nichts mehr geändert wird. „Ich habe versucht, ihm zu erklären, wie lange man braucht, um die Musik in den Fingern und im Gedächtnis der Muskeln zu verankern. Du verbringst Stunden damit.“ Hier zeigt sich der Unterschied zwischen Jazz und Musik in der klassischen Tradition: Als sich Nicola Benedetti über eine zu üppige Orchesterbegleitung an einer Stelle monierte, strich Marsalis kurzerhand einen Teil der Instrumente aus der Partitur. Für ihn kein Verlust, denn Jazzkompositionen werden jeden Abend verändert, während in der Welt der Klassik der Notentext über allem steht.
Der umfasst in Wynton Marsalis´ Violinkonzert eine wie ein Traum aufgebaute „Rhapsody“, ein „Rondo BurBurlesqe“ mit Erinnerungen an den Jazz aus New Orleans, einen „Blues“ mit Stimmungswechseln vom Flirt bis zum Katzenjammern sowie „Hootenanny“ mit wilden Tänzen. Das klingt nicht, als habe die amerikanische Musik einen Wagner erhalten. Wohl aber setzt Wynton Marsalis fort, was Igor Strawinski, Béla Bartók und George Gershwin begonnen hatten: die Fusion von europäischer und außereuropäischer Musiktradition. Mit einem Unterschied: dass Wynton Marsalis von der anderen, der Jazzseite kommt und deshalb in seinen Werken die bluesbetonte Traditionslinie dominiert.

Neu erschienen:

Wynton Marsalis

Violinkonzert D-Dur

Nicola Benedetti, Philadelphia Orchestra, Cristian Macelaru

Decca/Universal

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Wynton Marsalis (*18. Oktober 1961 in New Orleans)

Als Kind spielte er im New Orleans Civic Orchestra (ab 1973) und lokalen Bands. Er studierte an der Juilliard School of Music/NYC. Bis 2019 wurde er mit neun Grammys in Klassik und Jazz ausgezeichnet. Er hat rund 80 Jazz-CDs sowie CDs mit Trompetenkonzerten von Haydn, Hummel, Mozart, Händel, Purcell, Torelli und anderen veröffentlicht.

Nicola Benedetti (*19. Juli 1987 in West Kilbride, Schottland)

Sie studierte an der Yehudi Menuhin Schule in Surrey. Seit 2004 veröffentlichte sie acht CDs mit Violinkonzerten von Szymanowski, Mendelssohn Bartholdy, Vaughan Williams, Tavener, Tschaikowski und Bruch sowie weiteren Werken.

Werner Stiefele, 21.09.2019, RONDO Ausgabe 4 / 2019



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