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N° 1353
13. - 24.04.2024

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am 20.04.2024



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Hille Perl (c) Foppe Schut

Fanfare

Proben, Pleiten und Premieren: Höhepunkte in Oper und Konzert

Der Sommer war groß, die Festspiele waren viele, schön war unser finaler Abstecher ins Schweizer Saanenland zum Gstaad Festival. Gemäß dem vielgestaltigen, sich über fast zwei Monate hinziehenden Motto „Paris“ geht die Reise diesmal über den Lac Léman, also den Genfersee. Windungsreich kurvt das Bähnchen über den im Sonnennebel glitzernden See zwischen den Weinbergen ins Berner Oberland. Märchenwelt pur. Vom Puppenstubenbahnhof Schönried sind es ein paar Meter zum Châlet Sandra, da hat die zum Festivalfinale fidel fiepsende Baroque Academy von Maurice Steger einen Unterrichtsort. Jetzt schwingt die legendäre Köchin Eliza den Löffel, umwärmt mit Fürsorge. Zitronengras-Pastinakensuppe und mit Basilikum marinierte Wassermelonen stehen bereit.
Da fühlt man sich angekommen, taucht ein zwischen die Akademisten und die Handvoll Youngsters am Blasrohr. Spielen tun sie alle toll. Das hört man beim Pop-Up-Abschlusskonzert der ganz Jungen, die sich mit Steger vor ihren Fans in der Halle des gastfreundlich umsorgenden Wellness-Hotels Eremitage produzieren. So viel Spaß und Aufbruchsfreude, so viel Können, Wissen und Engagement.
Abends gibt es in der heimeligen Kirche von Zweisimmen ein Concert Comique, mit schrägen, Barock-Wissenswertes transportierenden Causerien vom Tanzmeister Stephan Mester. Man entdeckt Musik, man lauscht Könnern wie Gamben-Königin Hille Perl.
In Berlin hingegen ist Durchhaltevermögen gefragt. Über neun Stunden (mit drei Pausen) spannt sich beim Berliner Musikfest die vierteilige Familiensaga „La Roue“ des Kino- Visionärs Abel Gance aus dem Jahre 1923, welche Motive des Ödipus- und des Sisyphos- Stoffes aufarbeitet und im Eisenbahnermilieu ansiedelt. Und nicht nur das cineastische Meisterwerk in restaurierter Fassung, auch eine der aufregendsten Filmmusik-Wiederentdeckungen erlebt ihre Premiere: Arthur Honegger hatte sie einst zusammengestellt. Einem Musikerteam gelang es, die 117 Musiknummern von 56 Komponisten, darunter Florent Schmitt, Albéric Magnard, Paul Dukas, Albert Roussel, Claude Debussy und Darius Milhaud neuerlich zu kompilieren. Honegger steuerte fünf Stücke bei, aus denen „Pacific 231“ hervorging. Vom Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Frank Strobel wurden die 19 Kilo Musikpartitur packend im Konzerthaus aufgeführt.
Mascagnis „Cavalleria Rusticana“ und Leoncavallos „Bajazzo“ lassen als unfreiwillige Opernbrüder wie durchgedachtes Doppel Musiktheater wie Emotion zu Recht kommen. An der Deutschen Oper Berlin war die in 14 Jahren gut gealterte David-Pountney-Produktion in toller Repertoirebesetzung zu sehen. Erst glüht „Cavalleria“-Realismus an der Autobahnbauruine. So vehement, dass man misstrauisch wird. Es ist nur Spiel mit der Realität. Pirandello-Ambivalenz offenbart sich, wenn Kulissen erst wegfahren, dann als nackter Portalrahmen für die „Bajazzo“-Komödianten dienen.
Roberto Alagna ist ein idiomatischer Turridu wie ein kontrollierter Canio mit Charisma. Seine Ehefrau im wahren Leben ist Aleksandra Kurzak, hier als Nedda – musikalisch, verspielt. Vorher war Eva-Maria Westbroeck eine vibratosatt proletarische Santuzza.
In Amsterdam bescherte Robert Carsen der Dutch National Opera ein süffig-kluges Premierendoppel derselben Opern samt spektakulärem Debüt: Die georgische Mezzogranate Anita Rachvelishvili gab ihre erste, auflodernde Santuzza als Anna Magnani der Oper. Carsen denkt minimalisiert über Schein und Sein, das Wesen des Theaters nach, wenn er die tödlich endenden Eifersuchtsgeschichten rückwärts verschränkt. Sein „Vesti la giubba“ zelebriert Brandon Jovanovich alias Canio als vokale Erkundung inneren Seins. Ailyn Pérez ist ihm schnippische Nedda. Später wird die „Bauernehre“ nur geprobt, als Stück im Stück. Brian Jagde ist der unbekümmerte Turridu.

Matthias Siehler, 26.10.2019, RONDO Ausgabe 5 / 2019



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