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N° 1353
13. - 23.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Ronald Brautigam (c) Marco Borggreve

Ludwig van Beethoven

Ausgepackt!

Auch wenn im Dezember erst „nur“ der 249. Geburtstag ins Haus steht: Die Musikbranche läuft bereits auf Hochtouren, um auf das Beethoven-Jahr 2020 einzustimmen. Durch den ersten Veröffentlichungsschwung hörte sich Guido Fischer.

Wo liegt eigentlich die Grenze von Allem und Sämtlichem? Wann ist was komplett? Im Kleinen lässt sich das ja am Beispiel Beethoven noch problemlos beantworten. Wenn die Aufnahme seiner sämtlichen Klaviersonaten annonciert wird, sind immer wieder 32 Stück zu hören (die Kurfürstensonaten galant übergehend). Genauso steht es um seine neun Sinfonien. Doch wenn gleich drei feiste CDBoxen mit dem Superlativ „Der komplette Beethoven“ um die Gunst des Käufers buhlen, reicht allein schon der Blick auf den Umfang, um zu fragen: Wer hat Recht? So umfasst die „Beethoven Complete Edition“ der Deutschen Grammophon 118 CDs nebst 2 DVDs und 3 Blu-rays (mehr dazu auf Seite 12). Während eine „Complete Edition“ bei Naxos hingegen mit „lediglich“ 90 CDs herausgekommen ist, zählt man gerade einmal „schlappe“ 80 CDs bei „The Complete Works“ bei Warner. Diese Differenzen liegen aber nicht etwa daran, dass die hier zu hörende Weltklasse um Nikolaus Harnoncourt, András Schiff und dem Artemis Quartett im Vergleich zu den nicht weniger verdienstvollen Naxos-Kollegen wie Herbert Blomstedt, Konstantin Scherbakov und dem Kodály Quartet mächtiger aufs Gaspedal getreten hätte. Die Antwort liegt abseits der obligatorischen Einspielungen aller Werkzyklen eher in einer dreingegebenen Detailflut begraben. So finden sich in der Naxos- Box über 150 Weltersteinspielungen – darunter Klavierstück-Fragmente, Lieder und nicht zuletzt mehrstimmige Gesänge in einer brandneuen Version für großen Chor. Und selbst wenn die Beethoven- Gemeinde nicht sehnsüchtig darauf gewartet hat: Allein Beethovens Hippokrates-Vertonung „Ars longa, vita brevis“ kommt in der Chor-Fassung wesentlich aufgeweckter und lebensbejahender daher als die doch etwas müde wirkende Warner-Neueinspielung des Originals mit dem Accentus- Chor. Allen gemeinsam: Die Aufnahmen all der vokalen Kleinigkeiten und Schelmereien Beethovens bilden eine tolle Fundgrube. Und das schwergewichtige Repertoire liegt bei beiden Boxen sowieso in prominenten und absolut bewährten Händen.
Da bei solchen Mammutprojekten mit ihren Archiv- und Neuaufnahmen aber eben irgendwann einmal Produktionsschluss sein muss, gibt es bereits jetzt bei Naxos zwei CD-Nachzügler mit Raritäten bzw. Weltersteinspielungen. Der deutsche Flötist Uwe Grodd hat mit dem Gould Piano Trio überaus kraftvoll, farbenreich und fernab salonhafter Gediegenheit die Quartettfassungen der Beethoven-Sinfonien Nr. 1 & 3 aus der Feder von Johann Nepomuk Hummel vorgelegt. Noch eine Runde zupackender ist verständlicherweise Pianistin Hanna Shybayeva die beiden Klavierkonzerte Nr. 3 & 4 angegangen, die man so auf Tonträger nicht gehört hat, weil Bearbeitungen für Klavier, Streichquartett und Kontrabass. Sie stammen von Vinzenz Lachner, der der Bruder des mit Beethoven bekannten Komponisten und Schubert-Freundes Franz Lachner war. Die Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlichten Sextett-Versionen der beiden Klavierkonzerte sind eine wirkliche Entdeckung!

Pflichtprogramm für Pianisten

Auch wenn sich die exakte Anzahl der Einspielungen von Beethovens Klavierkonzerten schon lange nicht mehr genau überprüfen lässt, gehören sie natürlich weiterhin für jeden Pianisten zum absoluten Pflichtprogramm. Und nachdem gerade erst Jan Lisiecki mit der Academy of St Martin in the Fields eine brillante „moderne“ Gesamtaufnahme veröffentlicht hat, legt der niederländische Hammerklavier-Spezialist Ronald Brautigam historisch informiert nach. Wie schon bei seinen bemerkenswerten Aufnahmen der Mozart-Klavierkonzerte hat sich Brautigam dafür mit der Kölner Akademie unter Michael Alexander Willens zusammengetan. Und wieder ist es verblüffend, was dieses perfekt aufeinander abgestimmte Team diesmal für kontrastreich pulsierende und poetische Dialoge untereinander und mit Beethoven führt. Bislang galt die „Originalklang“-Einspielung der Konzerte mit John Eliot Gardiner und Robert Levin als ziemlich unerreicht. Jetzt kommt die Konkurrenz aus Köln.
Unter der Leitung des ebenfalls aus dem historischen Anti- Vibrato-Lager stammenden Dirigenten Andrew Manze hat Martin Helmchen mit dem sogenannten 2. Klavierkonzert eigentlich Beethovens 1. Klavierkonzert mit dessen 5. Klavierkonzert zusammen aufgenommen. Und da das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin sich in den letzten Jahren unter Kent Nagano auch Beethovens frühem, mit 14 Lenzen geschriebenem 0. Klavierkonzert in Es-Dur gewidmet hat (mit Mari Kodama am Klavier), benötigte man nun bei Helmchen & Manze keine Einspielzeit. Auf den Punkt genau bewegt man sich gemeinsam zwischen konzertantem Schwung und kammermusikalischer Entrückung!
Neben Beethovens nie zu Ende erzählten Klavierkonzert- Schlagern gibt es aber nach Christian Tetzlaffs meisterlich ausmusizierter Neueinspielung (übrigens auch mit dem DSO Berlin!) eine weitere Top-Aufnahme des Violinkonzerts. Der griechische Geiger Leonidas Kavakos entpuppt sich dabei nicht nur als wahrer Orpheus auf vier Saiten, sondern leuchtet auch am Dirigentenpult des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks die Partitur bis in ihre magisch halbdunklen Winkel aus. Auf der zweiten CD ist Kavakos sodann mit Mitgliedern des Orchesters mit Beethovens Septett op. 20 zu hören, das übrigens auch das zweite Hauptwerk der CD des französischen Ensembles Le Concert de la Loge bildet. Vorher präsentiert man im klanghistorischen Gewand und luftig-delikat die Weltersteinspielung der ungemein dramatischen und auch vor Esprit sprühenden „Grande symphonie du salon“ für neun Instrumente des Böhmen Anton Reicha, der ja als Flötist zusammen mit dem Bratsche spielenden Beethoven in der kurköllnischen Kapelle musizierte.
Das Prä-Beethoven-Jahr kommt aber gleichfalls nicht ohne seine Sinfonien aus. Andris Nelsons hat mit den Wiener Philharmonikern alle Neune vorgelegt. Iván Fischer und sein Budapest Festival Orchestra entdecken jetzt in der 1. Sinfonie Innenspannungen und furiose Entladungen, die auf die bekanntere Fünfte verweisen. Und im Februar 2019 sorgte der niederländische Pultmeister Bernard Haitink kurz vor seinem 90. Geburtstag mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks für eine glühend beseelte und zugleich transparent aufgefächerte Aufführung von Beethovens 9. Sinfonie.
Thematische Anleihen aus der Neunten finden sich natürlich auch in Beethovens „10. Sinfonie“ wieder, die der französische Co-Vater der Musique concrète, Pierre Henry, schon 1979 aus sämtlichen Sinfonien rekomponiert hat. 1998 überarbeitete Henry diese Dekonstruktion zu einem Remix, der mit seinen Techno-Beats immerhin neue, junge Beethoven-Jünger begeistern dürfte.

Top 3:

Sämtliche Klavierkonzerte (2 SACDs)

Ronald Brautigam, Die Kölner Akademie, Alexander Willens

BIS/Klassik-Center

Klavierkonzerte Nr. 2 & 5

Martin Helmchen, Deutsches Symphonie-Orchester Berlin, Andrew Manze

Alpha/Note 1

Violinkonzert, Septett u. a.,

Leonidas Kavakos, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks u.a.

Sony

Schwergewichte:

Complete Edition (90 CDs)

Naxos

The Complete Works (80 CDs)

Warner Classics

The Unknown Beethoven (9 CDs)

Berlin Classics/Edel

Neu erschienen:

Sinfonie Nr. 9

Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Chor des Bayerischen Rundfunks, Bernard Haitink u.a.

Sony

Sinfonien Nr. 5 & 6

WDR Sinfonieorchester, Marek Janowski

Pentatone/Naxos

Sinfonien Nr. 1 & 5

Budapest Festival Orchestra, Iván Fischer

Channel Classics/Klassik-Center Kassel

Klavierkonzerte Nr. 0 - 5 u.a. (4 CDs)

Mari Kodama, Deutsches Symphonie-Orchester Berlin, Kent Nagano

Berlin Classics/Edel

Grand Symphonies 1 – Sinfonien Nr. 1 & 3 in der Quartettfassung von Johann Nepomuk Hummel

Uwe Grodd, Gould Piano Trio u.a.

Naxos

Klavierkonzerte Nr. 3 & 4 in der Fassung für Klavier und Streichquintett von Vinzenz Lachner

Hanna Shybayeva, Utrecht String Quartet u.a.

Naxos

Anton Reicha, Ludwig van Beethoven

Symphonies de salon

Le Concert de la Loge

Aparté/harmonia mundi

Sämtliche Werke für Cello und Violoncello (2 CDs)

Ori & Omri Epstein

Linn/Note 1

Wiederveröffentlichungen:

Complete Beethoven Recordings (15 CDs)

Orchestre Révolutionnaire et Romantique, John Eliot Gardiner

DG/Universal

Complete String Quartets (4 CDs)

Guarneri Quartet

Sony

Complete Symphonies u.a. (6 CDs)

NBC Orchestra, Arturo Toscanini u.a.

Sony

Complete Violin Sonatas (4 CDs)

Uto Ughi, Lamar Crowson

Sony Classical

Leonard Bernstein Conducts Beethoven (10 CDs)

Sony

Beethoven Legendary Recordings (25 CDs)

Bruno Walter, Vladimir Horowitz, Isaac Stern u.a.

Sony

Beethoven alternativ:

Beethoven Meets Cuba

Klazz Brothers, Cuba Percussion

Sony

„Uwaga! Alle Menschen werden Brüder“

Folkwang Kammerorchester, Johannes Klumpp

ARS/Note 1

Pierre Henry: „Xe Symphonie Remix“

Decca/Universal

Wann geboren?

Über den genauen Geburtstag von Beethoven muss man sich bis heute den Kopf zerbrechen. Gesichert ist lediglich, dass er am 17. Dezember getauft wurde. Immerhin ein Brief von Johann Georg Albrechtsberger hat mit Hinweis auf den Namenstag seines Lehrers die These untermauert, dass Beethoven am 16. Dezember 1770 das Licht Bonns erblickt hat. Wobei es um das Geburtsjahr ebenfalls immer wieder leichte Verwirrungen gab. So wurde Beethoven 1778 bei seinem ersten öffentlichen Konzert als 6-jähriger Wunderknabe angekündigt. Und bis 1810 war Beethoven tatsächlich der Meinung, nicht 1770, sondern 1772 geboren worden zu sein. Der extra aus Bonn nach Wien geschickte Taufschein sollte diesen Irrglauben korrigieren.

Guido Fischer, 14.12.2019, RONDO Ausgabe 6 / 2019



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