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N° 1354
20.04. - 01.05.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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(c) Jakub Józef Orliński

Jakub Józef Orliński

Mit Testosteron gesungen

Countertenöre klangen für ihn immer zu weiblich. Da machte dieser Pole ‚männliche’ Obertöne zu seiner Spezialität.

Wo kommen nur ständig die ganzen Countertenöre her?! Früher als ‚Freaks’ beäugt, mussten sie sich lange Zeit sogar Fragen nach ihrer Zeugungsfähigkeit gefallen lassen. Bis sich herumsprach, dass der Brauch des 18. Jahrhunderts, Knaben zu ‚verschneiden’, um hohe Stimmen zu erhalten, mehr Opfer als erfolgreiche Kastraten hervorgebracht hat. Hört man, was der polnische Countertenor Jakub Józef Orliński erzählt, so scheint er selbst zwischen Bariton und Altus geradezu frei gewählt zu haben. Es gibt Männer, die nach dem Stimmbruch ihre hohe Stimme einfach behalten. Orliński behauptet sogar, jeder könne das.
In der Flut der neuen Countertenöre gab es in den letzten zehn Jahren genau drei überragende Neuankömmlinge: den Argentinier Franco Fagioli, den rumänisch-deutschen Valer Sabadus – und jetzt den Polen Jakub Józef Orliński. (Vorangegangen war Philippe Jaroussky.) Ein überschaubares Feld. Umso mehr, wenn man bedenkt, dass diese Männer ganz unterschiedliche Fächer bedienen. Orliński betrachtet sich als Alt (ähnlich wie früher Andreas Scholl und Michael Chance). Dagegen singt Fagioli Sopran und Jaroussky Mezzo-Sopran.
An eine große Tradition in Polen konnte er nicht anknüpfen. „Hätte meine Lehrerin nicht erkannt, wo ich hingehöre, wäre es möglicherweise nicht so einfach für mich gewesen“, sagt er. Und umso schwerer, da Orliński, wie er zugibt, „anfangs furchtbar faul war“. Er sei ein hyperaktives Kind gewesen, „kletterte ständig auf Bäume und verbrachte die meiste Zeit draußen auf dem Skateboard. Ich wäre vielleicht Extremsportler geworden, wenn ich nicht meinen Weg in die Musik gefunden hätte.“ Ursprünglich war die brasilianische Kampfkunst Capoeira seine große Leidenschaft.
Die anfängliche Arbeitsscheu indes gereicht ihm heute noch zu einem PR-Vorteil. Orliński wird nämlich ständig auf seine Vorgeschichte als Breakdancer angesprochen – dort brachte er es tatsächlich zum Zweitplatzierten bei internationalen Wettbewerben. „Vielleicht hätte ich das alles nie erzählen sollen, es lässt sich aber jetzt nicht mehr ändern“, meint er. Tatsächlich gebe es zwischen Singen und Breakdancen einen Zusammenhang. „Ich glaube durchaus, dass ich mit mehr Akzent auf der Energetik singe als andere.“ Er fange jedes Einsingen mit ganz ähnlichen Dehnübungen an, wie er sie vom Breakdance her kenne. „Die Gemeinsamkeiten hören da auf, wo sich der Körper beim Breakdance überschlägt.“ Singen ist eben doch immer noch eine eher aufrechte Angelegenheit.
Auffällig an diesem Sänger ist der virile Auftritt, sogar ein gewisser Testosterongehalt beim Singen. „Ich gebe zu, dass es ein bedeutendes Ziel für mich darstellt, Maskulinität in meiner Stimme zu finden. Mir klangen Countertenöre früher immer zu weiblich!“, sagt er. Da habe er lieber gleich Kurse bei der Kontraaltistin Ewa Podleś besucht, die für ihn männlicher klang als mancher Countertenor. „Ein wichtiges Erlebnis war, als ich entdeckte, dass ich meine männliche Seite, welche zweifellos sehr ausgeprägt ist, musikalisch besser in der Höhe zeigen kann.“ So fand er seine Nische. In der Männer-Garderobe.
Wie kriegt er die Maskulinität in die hohen Töne? „Ich gehe, wenn ich mich einsinge, runter bis zum tiefen F“, so Orliński. „Wenn ich soweit bin, kommt es darauf an, mit den hohen Tönen die richtigen Obertöne zu verbinden. Alles ist eine Frage der Obertöne. Auch die Männlichkeit!“ Er habe viel davon bei Luciano Pavarotti gefunden. Oder bei den King’s Singers, die er sehr bewundert. „Aber genauso bei der großartigen, von mir verehrten Marilyn Horne. Sogar bei Jessye Norman.“ In diesen Damen, wenn sie entsprechende Rollen sangen, steckte ein ganzer Kerl.

Körpereinsatz

Größte Erfolge feierte Orliński in Rollen wie Händels Rinaldo (in Glyndebourne und Frankfurt) sowie in Cavallis „Erismena“ 2017 in Aixen- Provence. Dort entstand auch ein tausendfach angeklicktes Youtube-Video, wo er in kurzen Hosen vor Publikum singt. „Es war heiß draußen, ich war für jemanden eingesprungen und außerdem besaß ich einen leichten Hangover von der Premierenfeier am Vorabend“, so Orliński. „Also waren mir Sneakers und kurze Hosen gerade recht. Ich war halt leichtsinnig. Und das war“, fügt er hinzu, „die richtige Devise“.
Geboren 1990 in Warschau, studierte er in seiner Heimatstadt sowie ab 2015 bei Edith Wiens in New York. Seine Deutschland-Debüts absolvierte er mit Händel-Rollen in Aachen, Cottbus und Gießen. Als einer von ganz wenigen schreibt er sich die Verzierungen seiner Barock-Partien selber aus. „Meine Master- Arbeit ging über rhetorische Figuren. Ich neige vielleicht dazu, dass die Ornamente bei mir etwas jazzig und groovy ausfallen. Erst die Verzierungen“, so Orliński, „bringen mir die Freiheit, die ich mir wünsche. Sie sind essenziell“.
Hervorstechend auch, dass Orliński mit enorm weit geöffnetem Mund singt. „Wenn ich mich dabei beobachten müsste, täte ich es vielleicht nicht“, wägt er ab. „Ich habe ein gewisses Maß an Exhibitionismus in mir. Beim Singen finde ich, dass man ohnehin so verletzlich ist, dass man ebenso gut konsequent sein und den Mund richtig öffnen kann“. Er glaube, es muss so sein. „Wir singen nicht nur mit einzelnen Organen, sondern mit dem ganzen Körper. Das ist es, was ich ausdrücken will.“
Nach seinem Debüt „Anima sacra“ glaubte er offenbar, einen Vorstoß in frechere Gefilde unternehmen zu müssen. Und präsentiert sich auf seinem neuen Album „Facce d’amore“ mit freiem Oberkörper (allerdings nur bis zur Schulter sichtbar). „Ich wollte, sagen wir einmal: zeitlos erscheinen. Und dafür sind doch Kleidungsstücke eher im Weg.“ Auch der scheinbar anrüchige Titel, der fast klingt wie „Machen wir Liebe“, ist Absicht. „Eigentlich sind ‚Gesichter der Liebe’ gemeint. Aber, ehrlich gesagt, haben wir gehofft, dass es missverstanden wird …“ Geboten werden Arien von Händel, Cavalli, Hasse, Conti und anderen. Darunter acht Weltersteinspielungen.
Mit Jakub Józef Orliński, der derzeit in Zürich in „Belshazzar“ auf der Bühne steht, entert ein Countertenor die große Szene, der seine Chance offensiv nutzen will. „Eifersucht, unschuldige Liebe, Durchgeknalltheit, bei mir geht es um das ganze Programm.“ Das Barockzeitalter sei in diesen Dingen „weniger zimperlich“ gewesen „als wir“, so Orliński. Demnächst singt Orliński in Karlsruhe die Titelrolle in Händels „Tolomeo“. Danach geht es in Händel- Mission nach Paris und San Francisco. Das Countertenor-Boot, so scheint es, ist voll. Jakub Józef Orliński jedoch muss noch mit. Ihn sollte man sich nicht entgehen lassen.

Neu erschienen:

„Facce d’amore“

Jakub Józef Orliński, Il pomo d`oro, Maxim Emelyanychev

Erato/Warner

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Stimmen-Fächer

Jakub Józef Orliński bezeichnet sich selbst als „Altus“. Und setzt hinzu, dass er wie ein Mezzo- Sopran klinge. Also höher. Das liegt am Timbre. Man unterscheidet generell zwischen männlichen Contraltos (wie etwa Xavier Sabata) und Sopranen (wie Franco Fagioli). Dazwischen gibt es zwei mittlere Lagen. Einerseits Mezzo-Soprane, wozu etwa Max Emanuel Cencic und Philippe Jaroussky zählen. Und andererseits den Altus, so wie Michael Chance und Andreas Scholl. Sie folgen den Kastraten: Caffarelli war Sopranist, Carestini Mezzo, Senesino wiederum war Contralto. Nur der legendäre Farinelli, nach anfänglichem Stimmumfang von d bis d’’’, reichte in späteren Jahren vom Sopran sogar bis zum Tenor herab.

Robert Fraunholzer, 30.11.2019, RONDO Ausgabe 6 / 2019



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