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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



Startseite · Interview · Blind gehört

(c) Christoph Köstlin_ DG

Blind gehört

Seong-Jin Cho: „Lang Lang?! Oh, tut mir leid …“

Seong-Jin Cho, geboren 1994 in Seoul, ist neben Yuja Wang und Lang Lang der wohl erfolgreichste Pianist aus Asien. Er studierte in Südkorea und am Pariser Konservatorium bei Michel Béroff. 2015 gewann er den renommierten Chopin-Wettbewerb in Warschau – und damit auch einen Vertrag bei der Deutschen Grammophon (wo er bislang Werke von Chopin, Debussy und Mozart einspielte). Sein neues Album „The Wanderer“ erscheint im April (mit Werken von Schubert, Liszt und Alban Berg). Wenn er nicht gerade auf Reisen ist, lebt er in Berlin-Mitte.

Das ist die 1. Rhapsodie von Brahms. Klingt vertraut. Ich habe die Aufnahme länger nicht gehört. Und bewundere schon den sehr natürlichen Flow. Es muss in den 1970er-Jahren aufgenommen worden sein. Vielleicht eine Decca-Aufnahme. Dort hatte man damals einen sehr speziellen Sound. Sehr warm, so wie man das bei Vladimir Ashkenazy, auch bei András Schiff findet. Das hier ist Radu Lupu. Er hat durchaus eine gewisse Dramatik. Alles ist sehr klar, auch den Höhepunkt hat er fantastisch genau im Blick. Das ist wichtig! Hier liegt der Höhepunkt übrigens kurz vor der Wiederholung, inmitten der Exposition. Ich weiß, wenn ich das höre, wieder ganz genau, weshalb Radu Lupu eines meiner ganz großen Idole ist.

Johannes Brahms

Zwei Rhapsodien op. 79

Radu Lupu

Decca/Universal

Eine jüngere Aufnahme? Ich mag sie nicht. Mir klingt das zu künstlich. Der Pianist will zeigen, was er sich alles bei der Sache gedacht hat. Er erklärt zu viel. Ich hoffe nur, dass das kein sehr bekannter Meister ist. Ich bevorzuge Till Fellner, das ist bei ECM. András Schiff spielt es fast ganz ohne Pedal, um damit alte Instrumente zu imitieren. Barenboim wäre freier. Und Glenn Gould ist das hier sowieso nicht. Dieser Musiker hier stürzt sich zu stark in die Harmonien. Das macht die Sache unnatürlich. Wenn man einhundert Mal am Tag wieder und wieder sagt: ‚Ich liebe dich‘, hat man es dann nicht zu oft gesagt? – Lang Lang?! Oh, das tut mir leid.

Verschiedene

Piano Book

Lang Lang

DG/Universal

Das kann nicht Radu Lupu sein, und es gefällt mir trotzdem sehr gut. Große Resonanz, nicht zu melancholisch, aber sehr detailreich, fast könnte man sagen: detailverliebt. Gar nicht künstlich. Das ist alles sehr gut gespielt, und verleiht dem Werk ein tolles, enormes Gewicht. Beim Fortissimo merkt man, dass es doch eine ältere Aufnahme sein muss. Ebenfalls Decca. Dann könnte es also vielleicht Julius Katchen sein, den ich sehr mag. Es ist heute noch überaus bewegend, wie anders dieser Pianist, der seine Brahms-Aufnahmen leider nicht lange überlebt hat, die Werke angeht. Er legt den Ernst seiner Lage in die Interpretation hinein. Und bleibt ganz ruhig. Großartig.

The Complete Decca Recordings

Julius Katchen

Decca/Universal

Das ist eine sehr alte Aufnahme. Gibt’s da nicht ein Liszt-Transkription von?! Nun gut, aufnahmetechnisch ist noch Luft nach oben. Die Stimme erkenne ich nicht. – Maria Callas? Das hat sie doch gar nicht gesungen. Ich kann hier nicht einmal die Sprache richtig erkennen. Also Callas! Ich würde vielleicht zu meiner Verteidigung vorbringen, dass ich die Sängerin in einer späteren Aufnahme leichter erkannt hätte. Toll, welche Klarheit und dabei rhythmische Freiheit das hat. Kurios ist es allerdings auch ein bisschen, meine ich.

Richard Wagner

„Liebestod“, aus: Tristan und Isolde

Maria Callas, RAI Orchestra, Basile

Warner

Gustav Mahler, und die Aufnahme ist jünger als die von Maria Callas. Ich bin bei Pianisten besser, deswegen weiß ich hier jetzt nicht so genau … Das Werk habe ich wohl hundert Mal mit Claudio Abbado gehört. Auch im Konzert, wenn ich nach der Pause geblieben bin. Das ist hier sogar schneller, als er es war. Myungwhun Chung würde es noch langsamer nehmen. Also, ich weiß nicht recht. Bernstein vielleicht? Er ist auch eher langsam. – Bruno Walter? Sein Mozart war auch nicht schnell. Also, ich muss zugeben, um das herauszuhören, dafür reicht es bei mir nicht aus.

Gustav Mahler

Sinfonie Nr. 1 „Der Titan“

Bruno Walter, Columbia Symphony Orchestra

Sony

Le baiser de l’Enfant Jésus“ aus den „Vingt Regard de l’Enfant Jésus “ von Olivier Messiaen. Nicht die neueste Aufnahme. Es dürfte sich um einen Steinway handeln, die klingen heutzutage anders. Technisch sehr souverän, mit guter Balance in Bezug auf die Harmonik. Damit meine ich: Die Oberstimme bleibt nicht nur einfach dominant. Ich glaube, es ist eine EMI-Aufnahme. Ich mag es nicht sonderlich, etwas zu scharf für mein Gefühl. Daraus würde in diesem Fall folgen, dass es sich um meinen verehrten Lehrer Michel Béroff handelt. Er hat mir das Stück nicht aufgegeben. Ich erkenne es vor allem durch einen großartigen, ökonomischen Gebrauch des Pedals. Große Klarheit, ohne je steif zu werden. Bei Decca hätte er besser geklungen. Was aber nicht heißt, dass es nicht tolle Aufnahmen bei der EMI gibt, der heutigen Warner. Denken Sie nur an Samson François, wundervoll! Und auch später bei Martha Argerich.

Olivier Messiaen

Vingt Regards sur l’Enfant-Jésus

Michel Béroff

Erato/Warner

Meine Aufnahme? Nein, doch nicht. Oder etwa doch!? Mehr als vier Jahre wäre das dann jetzt her. Die Ideen kommen mir irgendwie bekannt vor. An gewissen Stellen aufs Pedal zu verzichten, das macht doch hier niemand außer mir … Viele Kollegen leiden ja wirklich, wenn sie eigene Aufnahmen hören. Ich versuche eher zuzuhören, um zu lernen. Wenn man sich jeden Tag im Spiegel beobachtet, merkt man nicht, wie man älter wird. So auch in der Musik. Man übersieht gnädig die eigenen Manierismen. Ein Video anzuschauen ist allerdings noch viel schlimmer. Komische Gesichter! Hochgezogene Schultern!! Furchtbar. Aber lehrreich auch. Bei schnellen, anspruchsvollen Passagen neigt man dazu, nicht zu atmen. Sehr gefährlich. Das Herz beginnt schneller zu schlagen, man fängt an zu hetzen. Das sind alles Dinge, die abzustellen lernt man nicht auf der Uni.

Frédéric Chopin

Préludes op. 28

Seong-Jin Cho

DG/Universal

Ah super, ein Streichquartett. Das mag ich lieber als alles andere. Weil kein Klavier mitspielt. Ich versuche gelegentlich, wie ein Streichquartett zu klingen. Das sind Vorsätze, die sehr fantasieanregend wirken. Imitation ist keine schlechte Sache. Wenn ich übe, singe ich auch gern selber, um herauszufinden, wo ich atmen muss. Die Hand muss mitatmen! Nun aber zu dieser Aufnahme: Ich höre ein sehr schweres Vibrato, also eine alte Aufnahme. Sehr romantisch in der Auffassungsweise. Ich habe viele Aufnahmen mit dem legendären Busch Quartett gehört, und daran erinnert es mich. Es ist aber noch solider, und weniger old fashioned als bei Busch. – Das Amadeus Quartett? Na, passt doch. Niemand spielt zwar heute mehr wie Cortot. Die alten Filme, zum Beispiel Hitchcocks „Vertigo“ oder „Ein Herz und eine Krone“ mit Audrey Hepburn lieben wir aber immer noch. Nichts gegen die alten Sachen! Jedenfalls nicht von mir.

Ludwig van Beethoven

Streichquartett Nr. 12 Es-Dur op. 127

Amadeus Quartet

Audite/Note 1

Erscheint Anfang Mai:

Franz Schubert, Alban Berg, Franz Liszt

„The Wanderer“

Seong-Jin Cho

DG/Universal

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Robert Fraunholzer, 28.03.2020, RONDO Ausgabe 2 / 2020



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