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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Hörtest

Der Liederzyklus »Les nuits d’été« von Hector Berlioz

Einen letzten Duft von französischer Sommernacht hat sich unser Autor Michael Wersin für den September-Hörtest gewünscht. Aber nicht etwa mit den zarten Lavendel- und Heunoten der Impressionisten, sondern mit dem dunklen Rosen- und Zypressen-Bouquet französischer Hochromantik aus Hector Berlioz’ »Nuits d’été«. Was wenig bekannt ist: Mit dem Liederzyklus trug Berlioz seine Liebe zu Harriet Smithson, einst Muse der Symphonie fantastique, künstlerisch zu Grabe.

»Von Berlioz sind sechs Lieder erschienen, doch sind sie mehr Balladen als etwas Anderes. Der Titel ist Les nuits d’été. Die Stimme ist tiefer Tenor oder Mezzosopran. Journal des Debats und die Gazette musicale sind ganz entzückt davon, und finden den Großen auch im Kleinen groß. Wir wollen wünschen, daß dieses Urtheil überall sich gleich bleibt.«
Dies meldete am 27. Oktober 1841 die in Leipzig erscheinende »Allgemeine musikalische Zeitung« (AMZ). Im Sommer desselben Jahres waren die sechs Lieder nach Texten von Théophile Gautier in Paris bei Adolphe Catelin erschienen; es handelt sich bei dieser Edition um die heute seltener zu hörende Klavierfassung der Nuits d’été. Im Jahre 1843 fertigte Berlioz anlässlich einer Konzerttournee nach Deutschland von einem der Lieder, Absence, eine Orchesterversion an. Erst 1856 instrumentierte er, gleichfalls für ein Konzert in Deutschland, zunächst ein weiteres (Le spectre de la rose); auf Anraten eines schweizerischen Verlegers bearbeitete er dann bald auch die übrigen vier. Widmungsträger der Orchesterversionen sind sechs verschiedene Sängerinnen und Sänger; den unterschiedlichen Stimmlagen dieser Widmungsträger gemäß hat Berlioz die Lieder teilweise transponiert. Die frühe Klavierversion dagegen ist in puncto Stimmlage einheitlich. Berlioz hatte sie Louise Bertin zugeeignet, einer Komponistin und Dichterin; Bertins Vater war der Herausgeber des Journal des Debats, in dem 1841 dann die eine der beiden in der AMZ genannten günstigen Besprechungen des Liederzyklus erschien. Soweit ein kurzer Ausschnitt aus der eigentlich noch viel komplizierteren, bis heute nicht ganz geklärten Entstehungsgeschichte der Nuits d’été. Verantwortlich für die verbliebenen Rätsel ist nicht zuletzt Hector Berlioz selbst, der in seinen ansonsten geradezu exhibitionistisch offenherzigen Memoiren seinen schon zu Lebzeiten so beliebten Liederzyklus kaum erwähnt. So oblag es später seinen Biografen, Verbindungen herzustellen zwischen dem Liederzyklus und Berlioz’ Lebenssituation Anfang der 1840er Jahre: In jene Zeit fällt nämlich die Abkühlung seiner Gefühle für die englische Shakespeare-Darstellerin Harriet Smithson, die er 1833 geehelicht hatte – ein betrüblicher Vorgang, war Harriet doch anfangs Ursache eines gewaltigen Schaffensrausches und kühnes Ziel all seiner geheimen privaten Wünsche gewesen: Sie, die Berlioz ab 1827 auf der Bühne des Pariser Odéon als Julia und Ophelia bewunderte, ist die Inspirationsquelle der Symphonie fantastique.
1840 wurde das Scheitern der Beziehung offenbar: Harriet kränkelte ständig, neigte dem Alkohol zu und zog sich mehr und mehr vom öffentlichen Leben zurück. Sie hatte in all den Jahren auch nur mangelhaft französisch gelernt, eine substantielle Beteiligung an den intellektuellen Diskursen im Hause Berlioz lag somit außerhalb ihrer sprachlichen Möglichkeiten. Auf die Enttäuschung und Entfremdung folgte 1844 schließlich die räumliche Trennung. Es ist naheliegend, anzunehmen, dass Berlioz das Sterben seiner Gefühle für Harriet in einem Zyklus höchst melancholischer Gesänge künstlerisch verarbeitete, deren Texte übrigens der Gedichtsammlung La comédie de la mort seines Freundes Théophile Gautier entnommen sind: »Menez-moi«, dit la belle / »À la rive fidèle / Où l’on aime toujours!« / »Cette rive, ma chère, / On ne la connâit guère, / Au pays des amours«, lautet ein Dialog im letzten der Lieder – das »Ufer der Treue, wo man immer liebt«, zu dem die Schöne geleitet werden möchte, kann ihr Gesprächspartner ihr jedoch nicht zeigen: »Man kennt es kaum im Land der Liebe«, ist seine ernüchternde Antwort. »Reviens, reviens, ma bien-aimée« (»Komm zurück, meine Geliebte!«), lautet die eröffnende Zeile des dritten Liedes, und das vierte beginnt mit den bestürzenden Worten »Ma belle amie est morte: / Je pleurerai toujours; / Sous la tombe elle emporte/ Mon âme et mes amours.« (»Meine Geliebte ist tot, / Ich werde immerfort weinen; / Ins Grab hat sie mitgenommen / Meine Seele und meine Liebe«). Vor diesem Hintergrund wirkt die heitere Frühlingsthematik mit den wundervollen Naturbildern, die das erste der sechs Lieder entfaltet, wie eine wehmütige Reminiszenz an bessere Tage, denn bald danach wendet sich die Gefühlslage dramatisch: Verlust, Entbehrung, ungestilltes Verlangen, Tod und Grabesruhe bestimmen das Bild.

Berlioz` Genie in Melodik und Instrumentation

Berlioz präsentiert sich in den Nuits d’été als begnadeter Melodiker: Seine Kantilenen sind höchst ausdrucksstark, besonders in den ersten beiden Liedern unnachahmlich charmant und zärtlich, schmerzgeschwängert und tieftraurig im weiteren Verlauf. Die Klavierbegleitungen der Frühfassung sind vom Interpreten nicht so leicht zum Erblühen zu bringen: Berlioz war, das ist unverkennbar, kein Pianist und verstand das Klangspektrum des Instruments nicht gut zu nutzen. Ganz anders die Orchestersätze. Hier zeigt sich die ganze Instrumentationskunst des Sinfonikers: Man höre und genieße etwa im ersten Lied (Villanelle) den hohen Holzbläsersatz am Beginn, dem sich dann im Lauf der ersten Strophe effektvoll ein Cello als Dialogpartner der Gesangsstimme beigesellt. Wenig später kommt der Kontrabass hinzu, kurz darauf melden sich erstmals die hohen Streicher zu Wort, vor deren Pizzicato-Hintergrund wiederum ein paar Takte später das Fagott sein effektvolles Debüt hat. Den kompletten Klangapparat setzt Berlioz in diesem Lied nur in wenigen Takten ein; meistens zeichnet er die latenten polyphonen Strukturen der Partitur auf geschickte Weise mit den Mitteln der Instrumentation nach. Der Satz erfährt dabei auch hinsichtlich der horizontalen Entfaltung der Stimmen eine maßgebliche Erweiterung gegenüber der ursprünglichen Klavierversion.
Berlioz’ seltsames Schweigen über diesen Liederzyklus – dessen Titel Les nuits d’été übrigens schon mit seinem deutlichen Anklang an Shakespeares A Midsummer Night’s Dream eine Verbindung zur einstmals verehrten Shakespeare-Darstellerin Harriet Smithson herstellt – steht also in schwer begreiflichem Widerspruch zum hohen kompositorischen Wert und Erfolg der Lieder. Auffällig ist die Geschlossenheit und Homogenität der einzelnen Gesänge und in gewisser Hinsicht auch des ganzen Zyklus’. Es ist, als habe der sonst im Gefühlsleben so sprunghafte Komponist, auf den Friedrich Schlegels Charakteristik des romantischen Grundhabitus als gränzenlose Reizbarkeit des Gemüths trefflich passt, sich bei der Vertonung der Gautier-Gedichte außergewöhnlich gut zu fokussieren und zu konzentrieren verstanden. Kaum vorstellbar, dass er nicht auch selbst das Ergebnis sehr geschätzt hat.

Gardiner hoch vier oder Janet Baker pur?

Vierzehn lieferbare komplette Einspielungen des Zyklus nahm der Verfasser für diesen Hörtest näher in den Blick; gegeben hat es im Laufe der Jahrzehnte natürlich noch eine Menge mehr. Selten sind allerdings diejenigen Aufnahmen, die dem Umstand Rechnung tragen, dass die Orchesterfassungen der Lieder verschiedenen Sängern (Männern und Frauen) mit unterschiedlichen Stimmlagen gewidmet sind: Außer Colin Davis (seine beachtenswerte Aufnahme von 1969 ist leider vergriffen) unterzog sich im Jahre 1989 noch John Eliot Gardiner der Mühe, immerhin vier verschiedene Solistinnen und Solisten einfliegen zu lassen. Während Howard Crook (Villanelle, Au cimetière) zwar sehr biegsam und zart zu Werke geht, aber insgesamt vielleicht ein klein wenig zu leichtgewichtig und körperlos daherkommt, begeistert Catherine Robbin (Le spectre de la rose) durch ihr intensives, Janet-Baker-verwandtes Timbre vor allem in der hohen Lage. Eindrucksvoll im Miteinander von kerniger Fülle und lyrischer Einfühlsamkeit der Bassist Gilles Cachemaille (Sur les lagunes), jugendfrisch und unverbraucht die bemerkenswert wohlklingende Sopranistin Diana Montague – insgesamt sind diese Nuits sehr hörenswert, vor allem auch wegen der sehr guten Leistung des Orchestre de l’Opéra de Lyon, das unter der umsichtigen Stabführung des Nadia-Boulanger-Schülers Gardiner den anspruchsvollen Instrumentalpart durchaus zum Erlebnis macht.
Unter den mit nur einem Sänger verwirklichten Einspielungen wird zu Recht immer wieder diejenige von Janet Baker unter John Barbirolli als großartig hervorgehoben: Im Jahre 1967, als diese Version eingespielt wurde, war die 1933 geborene Mezzosopranistin ohne Zweifel auf dem Höhepunkt ihres Könnens, und sowohl das intensive Leuchten in der Villanelle als auch die intime Zärtlichkeit in Le spectre de la rose sind schwer zu übertreffen. Barbirolli begleitet mit dem New Philharmonia Orchestra äußerst einfühlsam und war wohl so ergriffen von seiner herrlichen Aufgabe, dass er sich des deutlich vernehmbaren Mitsummens nicht erwehren konnte. Als Janet Baker sich 1975 unter Leitung von Carlo Maria Giulini mit dem London Philharmonic Orchestra wieder dem Zyklus widmete (live aus der Londoner Royal Festival Hall), wagte sie in puncto Ausdruck wohl die eine oder andere Einzelheit noch expliziter zu avisieren, aber der Kenner ihrer Stimme wird bemerken, dass sie hier nicht ganz so vollkommen im Lot ist wie acht Jahre zuvor. Mit anderen Worten: Der Zauber der so einheitlich brillanten Barbirolli-Version bleibt ein einzigartiges Phänomen.
Zwölf Jahre vor Baker und Barbirolli spielten Victoria de los Angeles und Charles Munch den Zyklus mit dem Boston Symphony Orchestra für »His Masters Voice« ein. Die Gesangsleistung der damals 31-jährigen Spanierin lebt von der Anschmiegsamkeit ihres bemerkenswert schönen Soprans, der bei den tiefer gelegenen Liedern auch die nötige Klangfülle am unteren Rand nicht schuldig bleibt. Leicht eintrübend wirken gelegentliche Intonationsprobleme der Sängerin, und insgesamt vermag sie die großen melodischen Bögen nicht immer ganz so dicht und stringent auszugestalten wie Janet Baker. Mit großer Wandlungsfähigkeit näherte sich die französisch-italienische Sopranistin Régine Crespin 1963 den Nuits (mit dem Orchestre de la Suisse romande unter Ernest Ansermet): Man vergleiche etwa das jugendliche Glänzen ihrer Stimme in der Villanelle mit den wesentlich gedeckteren und gedämpfteren vokalen Farben von Le spectre de la rose. Nachteil dieser Einspielung: Crespins gelegentlich unsichere oder ungenaue Intonation korrespondiert ungünstig mit Ansermets nicht hundertprozentig aufmerksamer Stabführung – ein leichter Al-fresco-Schleier überdeckt diese sonst keineswegs unattraktive Version.
Unter den neueren Aufnahmen verdient die kürzlich veröffentlichte Live- Produktion der Amerikanerin Lorraine Hunt Lieberson Aufmerksamkeit: Die vor fünf Jahren verstorbene Sopranistin zelebrierte den Zyklus im Herbst 1991 zusammen mit Nicholas McGegan und dem Philharmonia Baroque (!) Orchestra in Berkeley; im Mitschnitt bezaubern sowohl die Schlichtheit ihrer Darbietung als auch die gerade dadurch zustande kommende Fokussierung auf die wesentlichen Ausdrucksmomente, wodurch sie den Hörer unweigerlich in den Bann zieht. Mit faszinierender Perfektion balanciert Hunt Lieberson jede einzelne Phrase aus – man achte nur auf das absolut organische Verklingen der ersten Kantilenen von Sur les lagunes bis an den Rand des Nichts, um nur ein winziges Detail dieser staunenswert homogenen Gesangsleistung zu erwähnen. Freilich steht über allem der edle Glanz des herrlichen, unverwechselbaren Timbres dieser Sängerin – er entschädigt den Hörer für zahlreiche Unregelmäßigkeiten auf instrumentaler Ebene.
In diesem Punkt wiederum wesentlich erfreulicher präsentiert sich 2001 das Orchestre de l’Opéra National de Lyon, das sich ja in der oben besprochenen Einspielung von John Eliot Gardiner (1989) bereits bestens bewährt hatte. Nun hören wir es unter der sehr differenzierten Leitung von Louis Langrée die brillant disponierte Véronique Gens begleiten. Zwar rettet sich die Sopranistin in den tieferen, Mezzo-Fülle fordernden Gesängen gelegentlich mit nonchalanter Flüchtigkeit über eigentlich gewichtigere Passagen hinweg, aber dennoch gelingt es ihr insgesamt, den Liedern ihre ganz persönliche Farbe zu verleihen. Eher vibratoarm und sehr beweglich zaubert sie eine entwaffnend selbstverständliche Frische herbei, die den wirklich tragischen Momenten der Lieder zwar nicht ihre Melancholie raubt, aber den Hörer gewissermaßen aus engelhafter Höhenperspektive daran erinnert, dass die Welt sich trotz allem individuell erlebten Leid dennoch weiter und weiter dreht.
Durchaus hörenswert ist außerdem die 1994 entstandene Einspielung der Mezzosopranistin Brigitte Balleys; die Schweizerin überzeugt durch die Ruhe und gebündelte Ausdrucksintensität ihres Interpretationsansatzes, den Philippe Herreweghe mit dem Orchestre des Champs Elysées nuanciert zu unterstützen in der Lage ist.
In ihrem Mezzo-Timbre noch um einiges eindringlicher und glühender als Balleys zeigte sich 2006 Bernarda Fink, die vom Deutschen Symphonie-Orchester Berlin unter Kent Nagano leider bisweilen ein wenig hölzern und unidiomatisch akkompagniert wird; gerade in der vokalen Überwindung des gelegentlichen instrumentalen Einerleis, in das Nagano übrigens mit nicht akzeptabler Penetranz hineinsummt und seufzt, zeigt sich jedoch die Größe dieser Ausnahme- Interpretin.
Die verbliebenen fünf Einspielungen, detailliert aufgeführt in der nachstehenden Liste, halten dem Vergleich mit den bisher genannten nicht stand, weil sie vor allem den stimmlichen Ansprüchen, die der Kenner der Belegeinspielungen zu Recht hat, nicht genügen können. Zwei von ihnen (diejenigen von Janice Taylor und von Isabelle Vernet) präsentieren immerhin die sonst selten zu hörende frühe Klavierversion der Nuits d’été und sind daher zumindest in diesem Punkt von Interesse.

Die erste Wahl:

Howard Crook, Catherine Robbin, Gilles Cachemaille, Diane Montague, John Eliot Gardiner

Warner

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Janet Baker, Sir John Barbirolli

EMI

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Empfehlenswert:

Baker, Giulini

BBC Legends/Naxos

De los Angeles, Munch

Testament/Note 1

Hunt Lieberson, McGegan

Philharmonia Baroque Productions/harmonia mundi

Crespin, Ansermet

Decca/Universal

Gens, Langrée

Virgin/EMI

Balleys, Herreweghe

harmonia mundi

Fink, Nagano

harmonia mundi

Der Vollständigkeit halber:

Taylor, Baldwin

Dorian/Naxos

Vernet, Martin

Ligia Digital/Klassik Center

Shipp, Curtis

Somm/Klassik Center

Pollet, Jordan

Virgin Classics/EMI

Maurus, Casadesus

Naxos

Michael Wersin, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 4 / 2011



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