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N° 1353
13. - 23.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



Startseite · Interview · Blind gehört

(c) Wolf Silveri

Blind gehört

Reinhard Goebel: „Machen Sie das aus!!“

Reinhard Goebel, legendärer Gründer der Musica Antiqua Köln, lehrt am Salzburger Mozarteum und dirigiert. Geboren 1952 in Siegen, begann mit mit 12 Jahren Geige zu spielen. Als überragend seitens der von ihm 1973 gegründeten Musica Antiqua Köln gelten Einspielungen von Johann Sebastian Bachs Brandenburgischen Konzerten, Georg Philipp Telemanns Tafelmusik sowie französischer Barockmusik und Werken von Johann David Heinichen. Eine fokale Dystonie zwang ihn schon 1989, mit dem Geigenspiel erst aufzuhören, dann von links auf rechts umzulernen. 2006 beendete er seine Solistenkarriere ganz, und zwar planmäßig, wie er sagt. „Als alter Mann kann man keine Sonätchen mehr spielen“, so Goebel. Ihm fehle das Üben, nicht aber das Podium. „Puzzeln, Kramen, das war mir immer lieber als alle Auftritte.“ Er lebt in Salzburg und Siegen. Im „Blind gehört“ erkennt er fast alles, nur sich selber nicht und die Sänger, mit denen er schon zusammengearbeitet hat.

Musik um 1600. Es handelt sich um ein Gambenensemble von nicht moderner Art. So um 1960 herum. Denn die heutigen Manierismen fehlen. Ich höre hier dicke Saiten, egale Töne, ich meine es positiv. Die Musiker akzeptieren nicht einfach die Schwächen der barocken Besaitung. Alles ist gestochen scharf, ohne dies typisch ‚Gambige‘. Dies besteht darin, dass der zweite Ton immer wie gepfiffen klingt. Es ist entweder das Ulsamer-Collegium oder das Ensemble der Schola Cantorum Basiliensis. Also: August Wenzinger! – Er war eines meiner Vorbilder, ein ganz toller Mann. Obwohl Wenzinger eigentlich ein Revolutionär war, ist diese ganze alte Schule, die sehr verdienstvoll war, heute komplett vergessen. Es folgten Kuijken, Leonhardt und so weiter. Wir sind unduldsam geworden, und wollen uns nach Möglichkeit nur noch selber hören. Das ist unser Fehler.

Gibbons

Fantasies

(Wenzinger; 1954)

Archiv/Universal

Immerhin, Frau Mutter ist das nicht. Das Geklimper in der Laute steht nicht in den Noten, und es stört mich auch. Da sind ja lauter Scherze drin. Es handelt sich wohl nicht um Barockinstrumente. Sondern um modernes Equipment, vielleicht oben mit einer Darmsaite bespannt, so wie früher bei Thomas Zehetmair. Gut gespielt ist das schon. Nur was soll der Firlefanz?! Man sollte eigentlich mal zehn Jahre lang überhaupt keine „Jahreszeiten“ spielen. Sondern das Stück in Ruhe lassen. Es ist inzwischen zu einer Müllhalde schlechter Einfälle verkommen. Ach, machen Sie das doch bitte aus! Das tut so, als hätte es Ahnung, steckt aber voller Modernismen, die an den Haaren herbeigezogen sind. – Was, Janine Jansen? Naja, ist schon ein bisschen Holland drin. Und schon sehne ich mich direkt zurück zu Felix Ayo.

Vivaldi

Le Quattro Stagioni

(Jansen; 2004)

Decca/Universal

Das ist natürlich Harnoncourt. Der Bass könnte Ruud van der Meer sein. Wenn ich Auto fahre, höre ich alle Bach-Kantaten immer wieder hintereinander. Von vorne bis zum Schluss. Die Aufnahme da ist über 40 Jahre alt, aber man kann den Text ohne Weiteres erkennen. Heute wird er ja gern verschwiemelt, durch die Originalinstrumente fühlt man sich ohnehin auf der sicheren Seite. Auch ein Irrtum. Dennoch sollte man sich über die damaligen Produktionsbedingungen keine Illusionen machen. Ich war damals Schüler bei Marie Leonhardt, und habe mitbekommen, wie man drei Tage lang hintereinander nur Bass-Arien aufnahm. Dann kam der Tenor. Alles wurde zusammengeschnippelt. Hinterher kamen die Noten wieder in die Plastiktüte zurück, in der sie angekommen waren. Man hat eigentlich gar nicht gearbeitet. Dennoch hat der Zyklus seine ungeheure Frische behalten. Und den Kurt Equiluz – mit seiner Lächelmund-Technik – finde ich immer noch ganz toll. Im Ernst.

Bach

Kantate „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes“ BWV 76

(Harnoncourt; 1978)

Teldec/Warner

Bin ich das selbst? Nein, gottlob, ich höre da eine moderne E-Saite. Die Intonation, ehrlich gesagt, stinkt zum Himmel. Nicht langsamer werden, Leute! Also, das ist ein großes, sehr modernes Orchester. Wen interessiert es, wer dirigiert?! Da kann man als Dirigent ohnehin gar nicht richtig Einfluss nehmen. Es steht ja alles bereits in den Noten, ist vom Komponisten längst durchgestylt. Zu viel verlangt, da einen Dirigenten zu erraten, wenn Sie mich fragen. – Claudio Abbado? Wen stört’s ...

Beethoven

Sinfonie Nr. 1

(Abbado; 2008)

Deutsche Grammophon/Universal

Aus der Frühzeit der Schallplatte. Das könnte der junge Menuhin sein. Mit Hephzibar, seiner Schwester? Sie passen eigentlich nicht gut zusammen, aufnahmetechnisch ist es gewöhnungsbedürftig. Bisschen höher, bitte! Aber, wie ich zugleich sagen muss: Eigentlich süß! Grandios sogar. Mir war der späte Menuhin nicht sehr sympathisch. Er trug seinen Geigenkasten auf dem Kopf – aus Yoga-Gründen – und machte ‚in Menschlichkeit‘. Als man ihm in Duisburg den Menschlichkeitspreis verlieh, wollte er die fünfstellige Gage trotzdem haben. Immerhin, doch sehr beeindruckend.

Mozart

Violinsonate Nr. 24 KV 376

(Yehudi und Hephzibar Menuhin; 1938)

Warner

Ergreifend. Für Frau Schwarzkopf hat das wohl zu wenige Manierismen. Ich bin kein Sängerkenner, wie ich zugeben muss. Erna Berger? – Doch die Schwarzkopf!? Ich finde, dass sie das sehr gut dosiert und disponiert. Nur lebe ich eigentlich lieber nach vorn. Auch ich habe irgendwann mal Aufnahmen von Joseph Joachim gehört. Aber da lese ich dann doch lieber gleich was Historisches. Beim Hören ist übrigens immer viel Einbildung dabei. Der Geiger Henri Marteau galt in den 20er-Jahren als zu französisch. Als man das in Manchester einmal akribisch durch Hörtests untersuchte, konnte es niemand verifizieren. Es war reine Projektion.

Schubert

„An die Musik“

(Schwarzkopf; 1952)

Warner

Naja, diese falsche Appoggiatura könnte von mir sein. Damals war ich noch nicht so weit. Wenn ich dies hier tatsächlich sein sollte, dann ist es jedenfalls 35 Jahre her. Da kann ich mich nicht mehr recht erinnern. Ich hätte angenommen: Ich war klarer. Das da ist auch nicht Henk Bouman am Cembalo. Kürzlich, als ich vom Einkaufen zurückfuhr, kam im Radio was. Ernsthaft meckern kannst du jetzt nicht, sagte ich mir. Meine Argumente versagten, die Sänger habe ich auch nicht erkannt. Es ist eben doch so, dass drei Häutungen zwischen diesen Aufnahmen und mir liegen: Das Aufhören mit der Geige, das Verkehrt-herum-Lernen, und dann der Dirigent. Ich fühlte mich mit meinen Aufnahmen irgendwie nie verwandt. Die standen immer eher zur Diskussion.

Couperin

Les Nations

(Goebel; 1984)

Archiv/Universal

Kommt die Sängerin aus Berlin? (Verzieht das Gesicht.) Das Zinkspiel: prekär. Ich habe mal eine Kritik gelesen, in der stand: „Frau von Otter kratzt die Reste ihrer Stimme zusammen“. Aber das kann sie hier doch nicht sein. Vielleicht Nuria Rial? Ein Mezzo müsste mehr Körper haben. Die Sängerin hat unten Intonationsschwierigkeiten, und drückt sich künstlich runter. Nein, das ist nicht Anne Sofie! Bitte nicht!! – Doch?! Die typische Farbe ist nicht mehr da. Sie hatte so etwas unglaublich Luxuriöses in der Stimme. Da kam Goldstaub von oben. Pailletten flogen vom Himmel herab. Ihr Orphée unter Gardiner gehört immer noch zu meinen Lieblingsaufnahmen überhaupt. Da haben Sie mich jetzt doch noch völlig aus der Fassung gebracht.

Monteverdi

„Si dolce è’l tormento“

(Otter; 2012)

Naïve/Indigo

Zuletzt erschienen:

Eberl, Dussek

Konzerte für zwei Klaviere (Beethoven’s World, Vol. 4)

mit Duo Tal & Groethuysen, hr-Sinfonieorchester, Goebel

Sony

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Robert Fraunholzer, 12.12.2020, RONDO Ausgabe 6 / 2020



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