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(c) Pixabay
Kolumbien? Kultur? Klassik? Da fällt den meisten außer Präkolumbianischem nicht viel ein. Und dann doch. Der aufstrebende, gerade bei den Wiener Symphonikern als Chef eingestiegene Dirigent Andrés Orozco-Estrada kommt aus Medellín. Und waren nicht sogar die Wiener Philharmoniker kürzlich in Bogotá? Dort gibt es das Festival Internacional de Música Clásica de Bogotá, immer in der Karwoche. 2020 hätte das Thema „Bogotá es barroco!“ gelautet. Da sollte es auch Überraschungen aus südamerikanischen Klosterbibliotheken geben. Jetzt ist das erstmal Corona-bedingt aufgeschoben. Diversity ist ein großes Thema in Kolumbien, wo eine gut ausgebildete Jugend sich nach den Jahren der kriminellen Politwirren und den Drogenkartellkriegen verstärkt international verbinden will. Auch mit Kultur. An einem der kolumbianischen Touristen-Hotspots versucht das seit 14 Jahren schon, jeweils im sonst weitgehend festspielfreien Januar, ein weiteres Musikfestival: Julia Salvi, die kolumbianischen Witwe des italienischstämmigen Victor Salvi, bedeutendster Hersteller von Konzertharfen, hat das Cartagena Festival de Música gegründet. Einerseits, um mit Edelpaketen reiche Ausländer in die herrlich aufblühende spanische Kolonialstadt und Spielort einiger Garcia-Marquez-Bücher zu locken, schließlich sind die Kapellen zweier, in ehemaligen Klöstern untergebrachten Luxushotels wichtige Konzertorte. Anderseits, um mit vielen Gratisevents, etwa fast jeden Abend der neun Spieltage auf dem atmosphärischen Platz vor der San-Pedro-Kirche, auch der Bevölkerung der von Festungsmauern umgebenen Millionenstadt etwas zu geben. Cartagena hat sich als eine der schönsten Kolonialstädte Südamerikas behauptet und ist nicht zuletzt wegen der geografischen Lage der Altstadt auf einer Halbinsel (auf einer weiteren Landzunge liegt die riesige Hotelzone Bocagrande) die sicherste und bestbewachte Stadt in Kolumbien. Neben dem Festungsring und den Stadtteilen Centro mit der Kathedrale und zahllosen Palästen im andalusischen Stil, San Diego, dem Viertel der Händler und der zahlenmäßig kleinen Bourgeoisie ist Getsemaní, das Viertel der kleinen Leute und Handwerker, unbedingt sehenswert. 1959 wurde Cartagena zum nationalen Kulturerbe erklärt, seit 1984 ist es UNESCO-Weltkulturerbe. Die vielfältige, farbenbunte Stadt wurde im Zuge der Kolonialisierung Südamerikas am 1. Juni 1533 von Pedro de Heredia gegründet. Unterstützung erhielt der spanische Konquistador von der India Catalina. Cartagena erlebte ein schnelles Wachstum als wichtiger Hafen für die Schifffahrt. Die spanische Schatzflotte kam zweimal jährlich von Sevilla oder Cádiz, um hier Waffen, Rüstungen, Werkzeug, Textilien und Pferde zu vermarkten und Gold, Silber, Perlen und Edelsteine zu laden. Auch die niederländischen und englischen Sklavenschiffe mussten nach Cartagena. Aus diesem Grund wurde der Ort häufig von Piraten geplündert, beispielsweise 1585 durch Sir Francis Drake. Nach dem Einfall Drakes wurde Cartagena durch einen elf Kilometer langen Schutzwall und die riesige Wehranlage San Felipe gesichert. Auch die Kirchen gleichen heute noch Wehrbauten. Dazwischen liegen vielfach zu Hotels umgebaute Paläste und Klöster. Schon 1610 wurde die spanische Inquisition auch in Cartagena eingeführt, die 1770 einen eigenen Palast bezog und hier eine mächtige Rolle spielte. Cartagena wurde als die Perle von Las Indias bezeichnet. Der Jesuit Pedro Claver beschränkte im 17. Jahrhundert seine Hilfe für die zahllosen schwarzen Sklaven, die hier versteigert wurden, nicht auf Massentaufen, sondern bemühte sich in tätiger Nächstenliebe als Arzt um die Verbesserung der menschenunwürdigen Bedingungen, unter denen die Sklaven zu leiden hatten. Er wurde dafür von der Katholischen Kirche heiliggesprochen. Seine Statue ist vielfach zu sehen, das Krankenhaus inmitten des hektischen Marktreibens steht noch.
Der jesuitische Nationalheilige Kolumbiens hat sich einst auf der Plaza San Pedro an einem der wichtigsten Umschlagplätze dieses grausamen Geschäfts mehr als rein geistlich der Sklaven angenommen; jetzt erklingen hier Mozart und Rossini neben Südamerikanischem. Das Cartagena Festival de Musicá war 2020 unter dem Motto „Das Schöne und das Sublime“ dem Übergang von Klassik zur Romantik gewidmet. Seit 2014 kuratiert es der italienische Musikwissenschaftler Antonio Miscenà, der dank seiner guten Beziehungen in die dortige Musikindustrie auch eine Instrumentenbauermesse veranstaltet. Ganze Werkstätten aus Cremona sind da, auch viele Akkordeonanbieter. Praktischerweise ist das gleich neben dem historischen Pier thronende Kongresszentrum einer der Spielorte, wo im Auditorium eine zeitgenössische Fusion von Klassik und Karibik versucht wird, die jungen kolumbianischen Komponisten aber – auch ein DJ ist dabei – erstaunlich konventionell bleiben. Dafür geht in der neobarocken Schmuckschatulle des Teatro Adolfo Mejià die Post ab, wo die legendäre Stadtmitgründerin, die India Cartagena, barbusig unter dem rosa angestrahlten Lüster präsidiert. Das Orquesta Sinfónica de Cartagena ist ein vom Festival gesponserter Jugendprojektklangkörper, der mit Südamerikanischem toll einheizt. In der ausgewogenen Künstlermischung finden sich ebenso das Kammerorchester des Royal Concertgebouw Orchest und die Camerata Salzburg, die Mezzosopranistin Elisabeth Kulman, der Pianist Andrea Lucchesini, der auch in einer Kirche am Flughafen spielt, und das Trio di Parma. Zwischen Salsa und Champeta draußen singt in der Capilla San Teresa – wie Karl Mays Lord Lindsey im neuen weißen Anzug, weil der Koffer hängen blieb – der britische Ausnahmetenor Ian Bostridge, begleitet von der vorzüglichen Italienerin Saskia Giorgini, Schuberts „Müllerin“ und Winterreise“. Bei 33 Grad und 90 Prozent Luftfeuchtigkeit gerät das zu einem so intensiven wie expressiven Ganzkörperklangerlebnis. Es bellen sehr real die Hunde, es rasseln die Autohupen, statt des „weißen Scheins“, den der Reif streut, glitzert ein Kranz von Schweißperlen. Man ist Schubert so nah wie nur möglich. In Kolumbien. Für eine Reise dorthin kann es also durchaus klassische Begleitung sein.
cartagenamusicfestival.com
Das Thema des Cartagena Music Festival 2021/22 ist eine Reise durch den italienischen Belcanto. Einerseits gibt es Ouvertüren, Arien, Konzerte mit Musik aus drei Jahrhunderten. Andererseits wird die Oper aus sozialen, historischen und kulturellen Perspektiven sowie aus ihren Produktionsmechanismen analysiert. Die XV. Ausgabe ist für den 6. bis 10. Januar 2021 geplant. Es werden Opernausschnitte von Monteverdi, Cavalli, Scarlatti, Händel, Caldara, Piccinni, Gluck, Mozart, Rossini, Bellini, Donizetti und Puccini zu hören sein. Diese Ausgabe wird aufgrund der globalen Gesundheitskrise etwas weniger umfangreich sein und dabei vorwiegend lokale Künstler präsentieren.
Matthias Siehler, 12.12.2020, RONDO Ausgabe 6 / 2020
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