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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



Startseite · Interview · Blind gehört

(c) Bernard Martinez

Blind gehört

Cedric Pescia: „Hat da jemand ein Metronom verschluckt?“

So einen Professor möchten wir auch mal haben! Cedric Pescia errät fast alles, hält sich französisch zurück – und nimmt doch kein Blatt vor den Mund. Geboren 1976 in Lausanne, ist Pescia einer der profiliertesten Pianisten einer französischen Interpretationsschule; was heute eher Seltenheitswert hat. Auf CD nahm er nicht zuletzt deutsches Repertoire auf, so von Bach, Beethoven, Schumann; außerdem Schubert, Ernest Bloch und John Cage. Etliche Alben entstanden gemeinsam mit der Geigerin Nurit Stark. 2002 gewann Pescia den Gina-Bachauer-Wettbewerb in Salt Lake City. Er ist Professor in Genf. Lebt in Berlin.

Eine gute Aufnahme haben Sie da. Altmodisch. Aber wie! Das klingt nicht nach irgendeiner festen Richtung. Nicht einmal wie aus der Zeit gefallen, sondern schon fast außerirdisch. Sehr schön!! Auch der Flügel ist gut, man hört die Hämmer nicht. Schöner Nachklang, relativ viel Pedal. Es klingt beinahe wie Gesang. Und wie aufgenommen in einem Schloss oder in einer Kirche. Dennoch höre ich, dass hier russische Schule mit im Spiel ist. Von der Energie her: Swjatoslaw Richter. Ja, das ist er! Wie er da reinhaut … Und hat trotzdem eine unerhörte Sanftheit. Ich hatte völlig vergessen, dass eine solche Aufnahme existiert. Es gibt sozusagen viele Richter in Swjatoslaw Richter. Nur die Hingabe ist immer da. Das Thema, das er hier spielt, tönt wie ein Manifest. Ich würde es ganz anders machen, und glaube ihm dennoch alles aufs Wort.

Bach

Das wohltemperierte Klavier, Buch I (Richter; 1970)

RCA/Sony

Diese Aufnahme ist relativ zügig und hätte Messiaen gewiss gut gefallen. Mir kommt es einen Tick zu direkt und zu objektiv vor. Mir fehlt ein bisschen die Seele des Pianisten. Sehr gut gespielt, keine Frage. Auch eine tolle Akkordkultur. Klasse! Roger Muraro würde das so spielen. Martin Helmchen spielt das noch besser. Und natürlich Pierre-Laurent Aimard, bei dem es aber eben mehr Seele hätte, wie ich glaube. Mir bleibt das hier zu sehr an der Oberfläche. – Was, doch Aimard?! Wir sind befreundet … Na ja, dass man die Schule von Yvonne Loriod hört, Aimards Lehrerin, so weit wäre ich wohl gegangen. Ich bin … erstaunt.

Messiaen

Vingt regards sur l’enfant Jésus (Aimard; 1999)

Teldec/Warner

Kann es sein, dass das meine Aufnahme ist? Es gibt da einiges, das ich anders mache. Und wieder anderes, das bei mir genauso ist. Hm, es ist verwirrend für mich. Ich weiß nicht. Doch!! Das ist meine Aufnahme, wegen der Verzierungen und der Artikulation. Ich habe das Stück bestimmt zehn Mal unterrichtet. Immerhin kann ich noch zu dem stehen, was ich hier höre, obwohl es schon mehr als 15 Jahre her ist. Was einem immer auffällt, wenn man ältere Dinge von sich hört: Man würde heute mehr wagen, weiter gehen bei der Phrasierung und in der agogischen Freiheit. Übrigens, das Stück war damals noch nicht ganz so unvermeidlich, wie es das heute ist.

Bach

Goldberg-Variationen (Pescia; 2004)

Claves

Ja, so, finde ich, muss man das spielen. Diese Aufnahme hat Transparenz, Delikatesse. Die Triller klingen fast wie Luft, wie ein Hauch von Wind. Da sind wir offenbar im Französischen gelandet. Das ist die Göttin persönlich: Marcelle Meyer. So verehrungsvoll äußern sich natürlich nicht alle über sie. Ich tue es aber und mein Freund Alexandre Tharaud sowieso. Das hier schwebt. Es hat keine Schwere. Stattdessen Eleganz, aber zugleich Puls und Kontur. Es ist wie ein sehr gut ausgeführter Kupferstich: Fein, aber klar. Couperin, Rameau und Chabrier waren die Spezialitäten dieser großen Pianistin. Die Instrumente, auf denen sie spielte, gaben erstmals her, was sie gern erreichen wollte. Und zwar wegen der sehr leichtgängigen Mechanik. Meist waren es Bechstein, Gaveau oder Pleyel. Der Klang mischt sich nicht ganz so gut, wodurch man die verschiedenen Schichten besser hört. Dies hier ist sich sicherlich ein französisches Instrument.

Couperin

Pièces de clavecin (Meyer; 1946)

EMI/Warner

Das ist die 1. Sonate von Ernest Bloch. Der Komponist ist eine meiner großen Leidenschaften. Gebracht hat mich dazu der Pianist und Klavierbegleiter Irwin Gage, der mir die Noten schenkte. Die 1. Sonate hat viel mit Wut und den Ängsten des Komponisten zu tun, sie sollte wohl weniger schön klingen als hier. Die Aufnahme-Balance ist zeittypisch, das bedeutet: Der Geiger steht ganz vorn, das Klavier ganz hinten. Es handelt sich aber gar nicht um eine Violinsonate im klassischen Sinn. Sondern um einen Kampf zwischen den Instrumenten. Das wird hier, in dieser relativ routinierten Interpretation, ganz verschenkt. Kein Zweifel aber, dass es ein großer Geiger ist, auch wenn es nicht ganz mein Geschmack wäre. Ich schätze, dass es die Aufnahme mit Isaac Stern ist, obwohl ich immer vermieden habe, sie anzuhören. Der Klavierpart ist schwächer ausgefallen.

Bloch

Violin-Sonaten Nr. 1 (Stern, Zakin; 1959)

Sony

(Zögert.) Das gefällt mir nicht. Es fehlt Feuer, es ist zu vertikal gespielt. Dabei bleibt der Gesamteindruck dünn, trotz der vielen Töne. Hat da jemand ein Metronom verschluckt? Manuell finde ich es sehr gut, da gibt’s nichts zu meckern. Aber es fehlt jeder Sinn für Schönklang – oder für sprechenden Klang. Dieser Walzer atmet nicht, er hat mit Brahms nichts zu tun, und auch nichts mit Paganini. Ich glaube, ich habe schon zu viel gesagt, oder?! – Gina Bachauer? Sie war ansässig in Salt Lake City, so kam es zum dortigen, nach ihr benannten Wettbewerb. Ich glaube, da gäbe es andere Pianistinnen zu entdecken. Zum Beispiel Maria Grinberg, die von Radu Lupu und Elisabeth Leonskaja sehr bewundert wird. Zu Recht.

Brahms

Paganini-Variationen op. 35 (Bachauer; 1963)

Mercury/Universal

Dies ist eines meiner zehn Lieblingsstücke überhaupt – und zwar seit ich es einmal live hörte, im Jahr 2000 mit dem Ensemble Intercontemprain. Es war wie ein Rausch. Ich hatte bis zu diesem Punkt wenig Zugang zur Musik von Boulez gehabt, kannte das Stück nicht einmal. Nachdem wir ein Jahr lang daran arbeiteten, habe ich es auch einmal mit Kollegen und Studenten gemeinsam aufgeführt. Sie waren besser als ich. Es gibt übrigens wenige Stücke mit so vielen Tönen. Es geht um Farben, Resonanz, Nachklang. Ganz in der Tradition von Debussy. Ich glaube: Debussy hätte so ähnlich geschrieben, wenn er weiterkomponiert hätte. Leider geht viel verloren, wenn man das Stück nicht live hört. Die Klänge wandern ja durchs Orchester. Dies ist sicherlich die Aufnahme unter Pierre Boulez.

Boulez

Sur Incises (Boulez; 2000)

DG/Universal

Schön. Es gibt hier einen leichten Drang, eine Unruhe. Das ist kein ruhiger Mensch. Von Wiederholungen hält er nichts. Ich schwanke, ob es sich um einen deutschen oder um einen französischen Pianisten handelt. Französisch an ihm – oder an ihr – wäre, dass das Melodische, mit der rechten Hand, sehr frei gestaltet ist. Nur vermittelt die Linke demgegenüber ein stark deutsches, das heißt harmonisches Gefühl. Interessante Mischung. Das Stück ist klar, Schumanns „Papillons“. Technisch gesehen ist es gut, trotz der, ehrlich gesagt, vielen falschen Töne. Hier riskiert jemand was. Wäre es mein Schüler, so würde ich sagen: „Mach ruhig, aber aufgepasst! Die Außenwelt hört mit.“ Grundsätzlich ist es mir so auch viel lieber als alles Flache. Also, wer ist es? Walter Gieseking hätte ich fast gesagt. Auch an Alfred Cortot muss ich denken, obwohl die Aufnahme zu jung ist. Einiges erinnert mich an den jüngeren Wilhelm Kempff. Getroffen? – Ein echter Künstler. Er sagt: ich. Und meint die Musik.

Schumann

Papillons op. 2 (Kempff; 1951)

DG/Universal

Neu erschienen:

Beethoven arr. Liszt

Sinfonie Nr. 9

mit Pescia, Cassard

La Dolce Volta/hm

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Robert Fraunholzer, 10.04.2021, RONDO Ausgabe 2 / 2021



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