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N° 1354
20. - 29.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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(c) Marco Borggreve

Viviane Chassot

Der Musik nahekommen

Die Akkordeonistin verleiht auf ihrer Solo-Einspielung ausgewählten Werken von Bach einen ganz neuen Klang.

In die Klassikszene bringt die Schweizer Musikerin Viviane Chassot ihre eigene Note ein – am Akkordeon. Einst etabliert in den Konzertsälen durch Künstler wie Mogens Ellegaard, Hugo Noth und andere, entfaltet das Musikinstrument von ihr gespielt ein besonders feinsinniges und nuanciertes Spektrum. Nun stellt Chassot mit „Pure Bach“ ein Solorepertoire mit ausgewählten Stücken des Barockkomponisten vor. Manche davon begleiten sie fast ihr ganzes Leben, wie sie im April in einem Videointerview von Basel aus berichtet. Dort lebt Chassot seit vielen Jahren, aufgewachsen ist sie in Wollerau im Kanton Schwyz am Zürichsee. Als 14-Jährige übte sie mühsam Präludium und Fuge Nr. 2 in c-Moll, BWV 847 aus dem Wohltemperierten Klavier. Heute ist das für sie nur eine Fingerübung. Die mag sie trotzdem, und so beginnt damit das Soloalbum. Dann ist da das Italienische Konzert, zwei der Französischen Suiten – Suite II c-Moll, BWV 813 und Suite V G-Dur, BWV 816 – und die Partita Nr. 1 in B-Dur, BWV 825. Das letzte Stück lernte sie während des Lockdowns. Die anderen Kompositionen hat sie bereits oft gespielt. Jede davon bringt eigene Anforderungen mit, was die Interpretation am Akkordeon betrifft. „Der dritte Satz des Italienischen Konzerts ist sehr anspruchsvoll, technisch, mental und physisch“, stellt Chassot fest. „Aber in den Suiten gibt es ebenfalls Sätze, die herausfordernd sind.“ Insgesamt stellt sie mehr die heitere Seite des Barockkomponisten in den Vordergrund. Die tänzerischen Sätze in den Suiten, der Allegro- und Presto-Satz des Italienischen Konzerts – die Musikerin schätzt das Luftige, Leichte dieser Werke. Sie interpretiert sie gern, umso mehr in schwierigen Phasen wie der von Pandemie und Lockdown. Selbst in einer für sie persönlich anstrengenden Zeit im vergangenen Jahr, als sie eine Brustkrebserkrankung überwinden musste, gab die Musik ihr oft Halt. „Für mich ist Bachs Musik eine sehr trostgebende Musik, die alle Dimensionen des Lebens und des Menschseins mit beinhaltet, und noch einen Schritt weiter geht in eine spirituelle Ebene“, fasst sie das in Worte. Dass Bach selbst, so wie viele seiner Zeitgenossen, häufig Verluste verkraften musste, früh seine Eltern und als Erwachsener seine erste Frau und viele Kinder verlor, sieht sie als einen Einfluss in seinen Kompositionen. Andererseits enthalten diese klare Strukturen, Leichtigkeit und Freude – und besonders das erlebt Chassot als tröstlich. Sie fühlt sich, wie sie es formuliert, „in allem abgeholt“.

Durch die Klassik zum Akkordeon

Man könnte sagen, „abgeholt“ hat diese Musik sie bereits früh. Eine Radiosendung mit Stücken von Bach, am Akkordeon gespielt, gab Chassot einen Impuls in Richtung Konzertlaufbahn. Solches Repertoire in Kombination mit diesem Musikinstrument, da war etwas dran, das sie nachhaltig begeisterte. Klassische Werke von Haydn, Tschaikowski, Beethoven und Mozart faszinierten sie vorher schon. Nicht nur wurden sie zu Hause viel gehört, beim Ballett tanzte Chassot dazu. Als Elfjährige war sie im Opernhausballett in Zürich, aber das Musizieren zog sie schließlich mehr an. Ihre Akkordeonstudien absolvierte sie in Bern an der Hochschule der Künste bei Teodoro Anzellotti. Einerseits setzte sie sich mit zeitgenössischem Repertoire auseinander, das teils für das Akkordeon komponiert wurde. Trotzdem war, und blieb, Musik von Barock bis zur Klassik ein Thema. Chassots Alben und Konzertprogramme dokumentieren, wie viele dieser Stücke sich auf dem Akkordeon interpretieren lassen. Oft entstanden sie für Cembalo, Orgel, Klavier oder Streicher. Die Schweizerin lebte nach ihrem Studium einige Jahre in Leipzig, um sich unter anderem an der Hanns Eisler Musikhochschule in Berlin mit diesen Perspektiven zu befassen. Der renommierte Streichquartettprofessor Eberhard Feltz wurde zu einem wichtigen Mentor. Außerdem besuchte sie Kurse bei etablierten Klavierkünstlern wie Ferenc Rados, Andras Schiff und Alfred Brendel. Sie schätzt diese Einflüsse, hat bis heute eine Sammlung von Klavieralben. Andererseits ist für sie klar, am Akkordeon muss sie ihre individuelle Interpretation entwickeln. Das beginnt mit der Partitur. In solchen Phasen hört sie keine Einspielungen der Werke und fragt nicht nach Meinungen. Die Version, die für sie stimmt, findet sie am besten allein. „Es geht mir darum, nur der Musik nahezukommen“, so Chassot. In den vergangenen Jahren baute sie ihre Bühnenpräsenz aus, gab Solo-Recitals, spielte im Duo mit Violine, Cello, Klarinette oder Zither. Gleichzeitig suchte sie die Kooperation mit Orchestern wie der Camerata Bern, dem Kammerorchester Basel und der Südwestdeutschen Philharmonie Konstanz. Sie konzertierte als Solistin mit Dirigenten wie Sir Simon Rattle und Riccardo Chailly. Immer wieder trat sie mit Streichquartetten wie dem Vogler Quartet und dem Pacific Quartet Vienna auf. Wo sie auf der einen Seite Scarlatti, Haydn, Mozart, Beethoven oder Tschaikowski am Akkordeon interpretiert, spielt sie an anderer Stelle ganz neue Werke. Helena Winkelmann, Stefan Wirth und Heinz Holliger sind nur einige der Komponierenden, mit denen sie bisher arbeitete. Die kreativen Aktivitäten blieben nicht unbemerkt, und so durfte sich die Künstlerin schon über den Kranichsteiner Musikpreis und den Swiss Ambassadors Award freuen.

Neu erschienen:

Bach

„Pure Bach“; Italienisches Konzert, Französische Suiten II & V, Partita I B-Dur, Präludium und Fuge c-Moll

mit Viviane Chassot

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Selbstgenügsam

Einige von Chassots interessantesten Einspielungen sind die mit Klavierkonzerten von Mozart und Haydn, für die sie als Akkordeonsolistin mit Orchestern arbeitete. Das auf sie allein konzentrierte Bach-Repertoire setzt hier nun einen Kontrast. Es bietet ihr dabei aber noch mehr die Möglichkeit, feine dynamische Abstufungen, Details der Artikulation und klangliche Nuancen hörbar zu machen. Und: Es reflektiert auf eine Art ein wenig ihren Alltag als Künstlerin, denn die Situation, allein mit dem Akkordeon zu sein, kommt oft vor. „Ich brauche auch die Zeit für mich am Akkordeon, das ist nichts, was mir schwerfällt“, so Chassot. „Sonst wäre Musikerin sein sehr schwierig.“

Christina M. Bauer, 22.05.2021, RONDO Ausgabe 3 / 2021



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