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N° 1354
20.04. - 01.05.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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(c) Parlophone Records Limited

Lea Desandre

Schnurrende Kratzbürste

Nicht zu nerdig oder zu nervös: die französische Mezzosopranistin freut sich über ihr erstes Solo-Album „Amazone“.

Amazonen und Vivaldi: Beim Liebhaber gepflegten Barockopern-Trashs klingeln da gleich alle Glocken. Da war doch mal dieses kultige Video (auf Youtube immer noch ein Knaller), wo der gute, nicht immer ganz geschmacksichere Alan Curtis in Spoleto einen apokryphen, von ihm vollendeten Vivaldi auf die Bühne brachte: „Ercole su’l Termodonte“. Da gab es abgebrochene Styropor-Phalli, einen sehr schrillen Countertenor im griechischen Plastikröckchen, barbrüstig singende Amazonen im SciFi-Look – und einen splitternackten Tenor mit Löwenfell als Titelheld, der einige Jahre später einen MeToo-Fall an der Backe hatte. Herrlich! Nein, davon hat Lea Desandre, die gerade ihr erstes Solo-Recital unter dem Konzeptthema „Amazone“ vorlegt, noch nie was gehört. Das muss sie mit 28 Jahren auch nicht. Und dennoch hat sie als Finale aus dieser trotz allem hübschen Vivaldi-Oper zwei Arien der Amazonen-Königin Antiope gewählt – die bei der Uraufführung 1723 in Rom, wo Frauen auf der Bühne verboten waren, pikanterweise auch noch von einem Kastraten gesungen wurde. Apropos Operntrash: Was sich die Niederländerin Lotte De Beer diesen Sommer beim Festival in Aix-en-Provence erlaubt hat, das wäre einem Mann heutzutage nicht mehr durchgegangen. Da gab es Mozarts „Le Nozze di Figaro“ als besonders alberne Sexklamotte, mit primitiven Witzen ganz weit unter der Gürtellinie. Eines der Opfer der Inszenierung: Lea Desandre als unter dem Schlabber-T-Shirt dauererregter Cherubino. Sie lässt es an sich abprallen: „Auch eine mögliche Lesart. Und der nächste Cherubino kommt sowieso.“

Verrückt-vitaler Mix

Denn der Mozart-Page, genauso wie die freche Zofe Despina in „Così fan tutte“, das sind augenblicklich ihre am meisten nachgefragten Rollen, und darin macht die sehnig-grazile Italo-Französin mit dem beweglich schönen, aber auch nachhaltig dunklen Mezzo eine sehr gute Sängerinnenfigur, darstellerisch wie vokal. Die Preisträgerin des Innsbrucker Cesti-Wettbewerbs von 2016 wurde bereits mit 20 Jahren in William Christies längst höchstrenommierte Nachwuchsakademie Le Jardin des Voix aufgenommen, und seitdem läuft es bei ihr blendend. In Frankreich, aber ganz besonders auch in Salzburg. Pfingsten 2018 gab sie dort in Offenbachs „La Périchole“ unter Marc Minkowski ihr Debüt, im Sommer desselben Jahres kehrte sie als Amore und Valletto in „L’incoronazione di Poppea“ unter Christie zurück. 2019 war sie in Caldaras Oratorium „La morte d’Abel“ sowie einer Farinelli-Gala mit Cecilia Bartoli, im Sommer dann als Vénus im von Barry Kosky ebenfalls als quietschige Bumsfallera-Komödie verulkten „Orphée aux enfers“ zu erleben; im Corona-Sommer 2020 folgte Despina in „Così fan tutte“ unter Joana Mallwitz, was sie 2021 wiederholte: „Und obwohl wir eigentlich nicht mehr gekürzt spielen mussten, habe ich meine erste Arie nicht zurückbekommen“, schmollt die Desandre immer noch ein wenig. Dafür war sie ebenfalls bei den Pfingstfestspielen als Annio in „La clemenza di Tito“ dabei. Und jetzt hat sie ein ganzes Album füllen dürfen. „Und ich bin superhappy, dass es mit meinen drei besonderen wie beziehungsreichen, für meine Karriere so wichtigen Gästen geklappt hat. Einmal spielt William Christie eine Passacaille in C, und dann singe ich zwei Duette von de Bottis und Philidor mit Cecilia Bartoli und Vivica Genaux, die für mich immer Vorbilder waren und sind. Beides sind zudem Weltersteinspielungen.“ Lea Desandre hat zudem ihre beiden Männer dabei: ihren Freund, den herrlich nonkonformistischen Lautenisten und Leiter des selbstredend beteiligten Ensemble Jupiter, Thomas Dunford, und Yannis François, den Tänzer, Countertenor und Musikologen, der neben „Amazone“ diesen Herbst mit Alben von Jakub Józef Orliński und Jeanine De Bique insgesamt drei Barock-Kracher thematisch mitentwickelt hat. „Aber natürlich bin ich auch stolz auf meine eigene Recherche-Ausbeute – und auf die gelungene Mischung aus Instrumental und Vokalstücken“, sprudelt es aus ihr heraus. „Ich wollte einen verrückten, vitalen Mix, aber es ist nicht zu nervös geworden. Ich finde es auch beim Hören noch sehr unmittelbar, ich bin sofort wieder in der wunderbaren Zeit der Aufnahmesitzungen in Nizza. Es ist eine gute Abfolge aus völlig Unbekanntem und ein wenig Vertrautem, aus Italienisch und Französisch, aus sanftmütig und kratzbürstig – es ist sehr ich“, sagt sie, ganz im Reinen mit sich selbst. „Dieses Album soll eine jubilierende Verneigung vor dem Wesen der Amazonen sein –leidenschaftlich, kühn, frisch. Außerdem ist dieses Kriegerinnenvolk genau das, was die Barockoper gern sein möchte und was sie heute wieder so modern erscheinen lässt: geschlechtlich ambivalent.“

Neu erschienen:


Provenzale, Cavalli, Pallavicino, Vivaldi

„Amazone“

mit Desandre, Bartoli, Genaux, Christie, Ensemble Jupiter, Dunford

Erato/Warner

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Befreiende Allegorie

Die Ambivalenz weiblicher Kämpferinnen, die Zweideutigkeit, die Naturverbundenheit, die Faszination für Heldenfiguren, das alles machte die Amazonen zu einer so unerschöpflichen Inspirationsquelle für Dichter und Komponisten des 17. und 18. Jahrhunderts. Sie sind für Lea Desandre die perfekte Illustration einer inspirierenden und befreienden Allegorie, als Heroinnen von gestern und heute. Deshalb singt sie – neben dem Cherubino in Lausanne, Paris, Barcelona und Zürich mit Minkowski, Dudamel und Montanari sowie diversen Rezitals – ihr „Amazone“-Programm in der Hamburger Elbphilharmonie (18. Oktober), in der Berliner Philharmonie (27. Februar), in Antwerpen (22. März), Le Méjan (3. April), Ajaccio (4. April) und im Schweizer La Chaux-de-Fonds (23. Juni).

Matthias Siehler, 16.10.2021, RONDO Ausgabe 5 / 2021



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