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N° 1353
13. - 21.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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(c) Łukasz Rajchert

realtime Festival Bremen

Neue Stadtmusikanten

Endlich hat Bremen ein Internationales Festival für Neue Musik. Die Debüt-Ausgabe unter dem Motto „Begegnungen“ schaut auf das Gastland Polen.

Agata Zubel ist nicht einfach eine Sängerin. Sie ist eine jener faszinierenden Neue-Musik-Sirenen, bei denen Stimmbänder schon mal derart surreal auf die skurrile Bahn geraten, dass man aus dem Staunen nicht herauskommt. Aber auch packende und bewegende Klanggeschichten erzählt die Komponistin und Performerin auf diese Weise. Wenn sich etwa ihre Beckett-Vertonung „Not I“ um das Verschwinden und Verstummen der eigenen Stimme dreht, hängt man Zubel gebannt an ihren Lippen. Allein schon aufgrund dieses Solos sollte man sich das etwas andere Vokalkonzert nicht entgehen lassen, das nun im Rahmen des Bremer „realtime“-Festival stattfindet. Immerhin ist Zubel nicht nur mit weiteren Neue-Musik-Storys zu erleben, sondern auch mit dem Pianisten und Computerexperten Cezary Duchnowski, mit dem sie das Duo ElettroVoce bildet. Ihr gemeinsames Konzert mit dem realtime-Ensemble gehört denn zu den vielen Highlights, mit denen Bremen sein tatsächlich erstes Festival für Gegenwartsmusik bekommt. „realtime“ lautet der Titel des mehrtägigen Veranstaltungsreigens, bei dem es im Gegensatz zu den ansonsten eher monothematisch aufgestellten Neue-Musik-Meetings betont facettenreich zugeht. Immerhin gibt es neben Konzerten und Performances auch Lichtinstallationen, Tanz, Poetry, Lectures, Workshops und Videokunst. Und während man sich zu später Stunde sogar bei Elektro-Partys austoben kann, kommt tagsüber selbst das ganz junge Publikum auf seine Kosten. So erzählt Schauspieler Christian Bergmann zu Cello- und elektro-akustischen Klängen das polnische Märchen „Die Froschprinzessin“. Ganz schön vielseitig und vor allem erfrischend kommt dieses Festival für Neue Musik daher, mit dem die Gründerin und Künstlerische Leiterin Claudia Janet Birkholz eine ganz neue Seite der Musikstadt Bremen zeigen will. Zwar gibt es bekanntlich schon das Musikfest Bremen, die Jazzahead und die deutsche Kammerphilharmonie Bremen. Aber die aktuelle Musik, sie tauchte in der Stadtgeschichte immer nur sporadisch und dann eher in Insiderkreisen auf. Und der letzte wirklich große Neue-Musik-Coup liegt auch schon ein halbes Jahrhundert zurück – als György Ligetis epochales Orgelstück „Volumina“ im Funkhaus von Radio Bremen uraufgeführt wurde.“

Bereicherndes Genre

Bei Claudia Janet Birkholz löste diese Neue-Musik-Abstinenz in ihrer Heimatstadt schon immer tiefes Seufzen aus. Schließlich ist sie seit 25 Jahren als Dozentin für Klavier und Neue Musik an der Hochschule tätig. Zugleich zählt sie international zu den führenden Pianistinnen, wenn es um die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts geht. Und nicht zuletzt ist sie Mitbegründerin des Vereins „realtime – Forum Neue Musik“, unter dessen Dach sie Konzerte gibt und moderiert. Jetzt aber hat Birkholz ein viertägiges Festival auf die Beine gestellt, mit dem sie auch zeigen will, „wie spannend, unterhaltsam und bereichernd dieses Genre ist. Wir wollen Raum für Begegnungen unterschiedlicher Art schaffen und die Zuhörer für diese Musik, für die wir brennen, begeistern. Jeder Besucher wird unsere Veranstaltungen mit neuen Klängen, Bildern und Ideen im Kopf verlassen. Und keiner wird mehr so hören wie vorher.“ Dass Birkholz daran nicht nur hinter den Kulissen erheblichen Anteil haben wird, zeigt sie gleich im Eröffnungskonzert, bei dem sie Karlheinz Stockhausens Klavierstück „Luzifers Traum“ dank einer Lichtdesignerin in ein auch szenisches Spektakel verwandeln wird, bei dem selbst Raketen aus dem Flügel schießen. Einen musikalischen Schwerpunkt bildet bei der Festival-Premiere das Gastland Polen. Neben Agata Zubel gastiert unter anderem das Ensemble Kwartludium mit brandneuen Werken junger und arrivierter polnischer Komponisten. Zudem dürfte auch für die nachrückende Generation an Musikbegeisterten der Workshop mit Gero Koenig ein Pflichttermin sein. Denn Koenig präsentiert sein selbst entwickeltes elektroakustisches Sensor-Chordeograph, das die Körperbewegungen der Musiker in Klänge, in choreografierte Kompositionen übersetzt. In ganz andere Soundwelten entführt die Kunst der Neuen Filmmusik. Dafür wurde nun erstmalig ein Musikvideo-Wettbewerb ausgelobt. Aus dem Nähkästchen werden Soundtrack-Kenner wie Jan Harlan plaudern. Und Harlan hat nun wirklich viel zu erzählen, denn er arbeitete seit 1969 mit seinem späteren Schwager Stanley Kubrick bei dessen Klassikern wie „A Clockwork Orange“, „The Shining“ und „Full Metal Jacket“ zusammen. Wer also die Neue Musik jenseits aller Genregrenzen und Schubladen erleben will, der macht sich ab sofort auf nach Bremen – wo Claudia Janet Birkholz das Publikum mit einem „Feuerwerk der Klänge, Farben und Bilder“ erwartet.

realtime – Internationales Festival für Neue Musik Bremen „Begegnungen“
22 & 23. Oktober, 6. & 7. November
www.realtime-bremen.de
Tickets: +49 421 36 36 36

Neue Klang-Bilder

Im Rahmen von realtime verleiht das Realtime-Forum Neue Musik erstmalig den Köster-Preis in Höhe von 30.000 Euro für den besten Musikfilm bzw. das beste Musikvideo zu Neuer Musik. Eine hochkarätig besetzte Fachjury entscheidet über den Sieg. Der Köster-Preis gilt als höchstdotierter Musikvideopreis im Bereich der zeitgenössischen Musik. Kurzfristig wurde mit realtime NOW auch einen Publikumspreis ins Leben gerufen. Die drei Finalisten bzw. Finalistinnen werden im Rahmen einer feierlichen Preisverleihung am 23. Oktober im Metropol Theater Bremen gekürt. Zudem werden die verfilmten Musikstücke live unter anderem vom Ensemble New Babylon sowie Kwartludium gespielt.

Guido Fischer, 16.10.2021, RONDO Ausgabe 5 / 2021



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