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N° 1354
20. - 26.04.2024

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am 27.04.2024



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Khatia Buniatishvili

Die Bühne als Droge

Sie ist unangepasst und unberechenbar, gilt als stachelig und eigensinnig: Die 23-jährige Georgierin Khatia Buniatishvili begeistert mit ihrem ebenso magischen wie sinnlichen Spiel sowohl ihr Publikum wie auch namhafte Kollegen. Und gilt damit nicht nur für RONDO-Autor Robert Fraunholzer als Pianistin der Zukunft.

Leggings bis zum Hals. Stiefel bis übers Knie. So empfängt die 23-Jährige mit dem unaussprechlichen Namen seriöse Journalisten zum Interview. »Ich will kein Produkt sein. Ich bin Künstlerin«, sagt sie. Ist das nicht das Credo jedes Mädchens, das frisch im Rotlichtviertel einer glitzernden Metropole gelandet ist? Die Riten der Klassik werden härter – und derber auch. Und Khatia Buniatishvili ist blutjung. Branchenintern sagt man dem Mädchen aus Georgien eine große pianistische Zukunft voraus. Zu Recht. Funkelnd und unberechenbar ist ihr Ton. Hypervirtuos ihr Anspruch. In Berlin beim ausverkauften Debüt-Konzert servierte sie den Leuten ein Killer- Programm mit Chopin-Scherzi, Liszts Mephisto-Walzer und Strawinskys »Petruschka«-Sätzen. »Je mehr, desto besser!«, sagt sie in lupenreinem Deutsch. Fünf Sprachen beherrscht sie. Mit sechs Jahren konzertierte sie erstmals öffentlich. Mit elf gab sie den ersten Solo-Abend. Harte Schule? Mit großen Kulleraugen blickt einen Khatia Buniatishvili an. Sie sagt, dass sie »die Bühne als Droge« brauche.
Gidon Kremer war es, der die 1987 in Tiflis geborene Künstlerin entdeckte. In Wien spielten beide die Uraufführung des wiedergefundenen Doppelkonzerts von Mendelssohn Bartholdy. Beim »Progetto Martha Argerich «, einem Festival in Lugano, wurde sie weiter mit der Szene vernetzt. »Ich muss psychologisch stark sein und den Saal vergessen, wenn ich meine Musik mit dem Publikum teilen will«, meint sie schlicht.
Ähnlich wie viele, die aus dem ehemaligen Ostblock kommen, fühlt sie sich »ganz als Mensch des 20. Jahrhunderts«. Also dem Gestern zugehörig. Der alte Sergej Rachmaninoff, Sviatoslav Richter und Glenn Gould sind ihre Favoriten. Unter gegenwärtigen Pianisten fühlt sie sich hauptsächlich zu ihrer »Lieblingspianistin« Martha Argerich und zu Radu Lupu hingezogen. Zu sonst niemandem.
»Das Klavier ist das schwärzeste Instrument«, sagt sie. Ein »Symbol musikalischer Einsamkeit«. Sind das alles Äußerungen eines im Inneren unglücklichen, kleinen Mädchens? Mit einem Jahr begann Khatia zunächst zu singen. Mit drei Jahren tappste sie auf etlichen Instrumenten herum. Im Alter von fünf setzte sie sich ans Klavier. Als georgischer Kinderstar reiste sie bald schon um die Welt – zunächst in die Schweiz, dann durch Russland, Israel und die USA.
Sie gilt als stachelig und hat ihren eigenen Kopf. »Ich kann nicht jeden Professor akzeptieren«, sagt sie naserümpfend und bekennt sich zu ihrem wichtigsten Lehrer, Oleg Maisenberg. Der Weggang aus Tiflis sei ihr schwergefallen. Es schnitt den Kontakt zur georgischen Volksmusik ab, die sich in ihrer Art Klavier zu spielen wiederfindet. Eine Gemeinsamkeit ist das mit anderen Musikern aus dem Osten wie zum Beispiel Patricia Kopatchinskaja. Elegisch pointiert, ein bisschen zigeunerhaft sentimental wohl auch ist ihr Spiel. Mit Talent zum Unglück. Doch genau darin verfügt ihr Spiel über eine erstaunliche, ganz eigentümliche Erotik.
Auch auf der ersten CD bei Sony wird ihr Spiel von einer Aura melancholischer Solitüde umweht. Liszts samtig beschwerter »Liebestraum« atmet dunkel phantastische Magie. Die finster umwölkte »Lugubre gondola«, die Liszt anlässlich des Todes von Wagner in Venedig komponierte, versenkt sich in romantische Abgründe ohne Happy End. Immer erlebt man dabei einen vertrackt eigensinnigen Ausdruckswillen, eine Lust am Querstand, hexenhafte Brillanz und Attraktivität.
»Ich brauche totales Drama«, sagt sie. Wenn man sie dabei so ansieht, wirkt sie ein bisschen wie aus Tim Burtons Kino-Film »Sleepy Hollow« mit Johnny Depp. Stolz ist sie auf eine kleine Narbe, die sie im Gesicht trägt, seit sie mit zwei Jahren gegen eine Tür rannte. Demnächst will Buniatishvili, nachdem sie Jahre in Wien gewohnt hat, nach Paris umziehen. Die Sprache spricht sie schon. Kein Zweifel, dass Khatia Buniatishvili eine der großen Pianistinnen der Zukunft sein könnte.

Franz Liszt

Sonate h-Moll, Mephisto-Walzer und andere Klavierwerke

Khatia Buniatishvili

Sony

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Robert Fraunholzer, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 3 / 2012



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