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20. - 29.04.2024

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am 27.04.2024



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"Es berührt einfach, wenn ein Orchester spielt": Philipp van Endert (c) Jazzsick

Philipp van Endert

Der mit dem Mond tanzt

Jazz-Gitarre trifft Streicher: Bei van Endert und dem Filmorchester Babelsberg wird daraus eine glücklich schwebende Liaison.

Philipp van Endert schläft für gewöhnlich sehr gut. Aber in der Nacht vor dieser besonderen Aufnahmesession im Mai 2021 sei er in seinem Hotelzimmer in Potsdam mehrfach vor Schreck aufgewacht, gesteht der Gitarrist. Verständlich: Denn bei dem anstehenden Studiotag handelte es sich um das mit Abstand größte Projekt in der umfangreichen Diskografie des Düsseldorfers – er allein an seiner semiakustischen Ibanez AS200, ihm gegenüber 25 Musikerinnen und Musiker des Filmorchesters Babelsberg. Da kann man schon mal Muffe bekommen, selbst wenn man in seiner Karriere bereits mit nicht minder beeindruckenden Jazz-Größen wie Mike Stern, Danny Gottlieb oder Kenny Wheeler zusammengearbeitet hat.
Dass die Befürchtungen des 52-Jährigen indes völlig unbegründet waren, beweist das Album „Moon Balloon“ aufs Entspannteste. Die Saiten von Jazzgitarre und Streichern treten unter der Aufsicht von Dirigent Jörg Achim Keller in einen aufmerksamen Dialog miteinander; mal werden van Enderts fragile Melodien sanft vom Orchester beantwortet und weitergesponnen, mal liefern ihm die Babelsberger die machtvoll aufwallende Grundlage für schillernde Soli. Dass sich nie das „With Strings“-Gefühl einstellt, das im Jazz seit den entsprechenden Einspielungen von Charlie Parker einen zumindest umstrittenen Ruf genießt, liegt zum einen am Verzicht auf einen Schlagzeuger. Stattdessen treten bei zwei Stücken Trompeter Christian Kappe und Bassist André Nendza hinzu, mit denen van Endert im ebenfalls drumlosen Trio „Cartouche“ spielt.
Zum anderen sorgen die Arrangements von Peter Hinderthür dafür, dass van Enderts Gitarrenballon gleichberechtigt mit dem Orchestermond am Himmel schwebt. Mit dem Filmkomponisten (u.a. „Baader Meinhof Komplex“) und ehemaligen Pop-Bassisten der Band Cultured Pearls ist van Endert schon seit 1990 dick befreundet, als man gemeinsam einen der legendären Jazz-Workshops der Akademie Remscheid besuchte. Hinderthür war es auch, der seinen Gitarristen-Kumpel zu „Moon Balloon“ ermutigte und den Kontakt zum Filmorchester herstellte. „Ich arrangiere selbst für Big Band und habe das während meines Musikstudiums in Berklee ja auch gelernt“, berichtet van Endert, „aber seine Ideen waren komplett anders als das, was ich gemacht hätte.“
Man darf sich bei den Partituren durchaus an Vince Mendoza und Maria Schneider erinnert fühlen, für die auch van Endert schwärmt. Einmal, im Intro zum Stück „Sundowner“, hat sich der Claus-Ogerman-Fan Hinderthür aber auch den Spaß erlaubt, schwer einen auf Hollywood zu machen. „Da sehe ich vor meinem geistigen Auge immer Doris Day und Heinz Rühmann winken“, erzählt van Endert mit einem Lachen.
Der Gitarrist stellt mit seiner gelungenen Orchester-Liaison übrigens schon längst keinen Jazz-Einzelfall mehr dar: In der jüngeren Vergangenheit nahmen US-Stars wie Wayne Shorter oder Pat Metheny symphonische Werke auf, auch in Deutschland finden immer mehr Musikerinnen und Musiker wie Axel Fischbacher, Fabia Mantwill oder Nils Wülker Gefallen an der Zusammenarbeit mit orchestralen Besetzungen. Woran könnte das liegen? Vielleicht daran, dass sich die Klassik stärker gegenüber dem Jazz geöffnet hat und „Improvisation“ kein gefürchtetes Fremdwort mehr ist. Van Endert, der als klassischer Gitarrist begann, hat aber eine noch einfachere Antwort: „Wenn man nicht ganz herzlos ist, berührt es einen einfach, wenn so ein Orchester spielt.“

Moon Balloon

Philipp van Endert, Filmorchester Babelsberg

Jazzsick/The Orchard-Bertus

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Josef Engels, 26.02.2022, Online-Artikel



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