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N° 1354
20. - 28.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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(c) Piergab

Raphaël Pichon

Hungrig nach Geschichten

Die Matthäus-Passion als Abschluss und Anfang. So sieht es der Dirigent, der eben einen Bach-Gipfel erklommen hat. Und der nächste wartet schon.

„O Haupt voll Blut und Wunden“. Raphaël Pichon, auch mit inzwischen 37 Jahren immer noch der großäugig dreinblickende Wunderknabe der französischen Barockmusik, mag sich gar nicht wirklich ausmalen müssen, was das gegenwärtig eben auch bedeutet. „Ich mag da aus einer bequemen Position heraus keinerlei vorschnellen Analogien ziehen, das verbietet sich einfach“, sagt er kategorisch. „Aber natürlich zeigt mir unser gegenwärtiges Weltgeschehen auch, wie aktuell Johann Sebastian Bach mit seiner Matthäus-Passion ist, und das hat im Grunde gar nicht so sehr etwas mit dem christlichen Glauben zu tun. Denn die Geschichte, die hier erzählt wird, sie ist einfach universell und springt uns alle unmittelbar an.“
Und so soll seine Neueinspielung des großen, bekenntnishaften Werks keine feierliche Verkündigung von oben herab sein. Sie ist rasch, flüssig, erzählerisch. Aber sie hat alle grellen Farben eines frischen Gemäldes, denn hier gibt es ein Ringen um Leben, um Vergebung und Auferstehung, den Drang nach Menschlichkeit. Und Bachs einzig mögliche Antwort ist die Liebe zu Gott, um unser Schicksal anzunehmen und das Opfer Jesu zu würdigen.
Schnell gerät Raphaël Pichon ins Schwärmen über die viele Dimensionen dieser Musik, die zwei Chöre und zwei Orchester, hin- und hergeworfen zwischen entrücktem Choral und szenischem Kommentar, Kontemplation und Direktheit: „Hier geht es ganz unmittelbar auch um die räumliche Disposition von Musik, um Geschmack, um einzelne Persönlichkeiten als Protagonisten, die Reaktionen der Allgemeinheit auf deren Tun, ja um Solidarität zwischen den Gruppen. Es ist alles ganz fluid. Und so soll es auch klingen, vorwärtsstürmend und wahrhaftig.“

Passion für die Familie

Zu Bach zurückzukehren, das ist für Raphaël Pichon und sein Instrumentalisten- wie Chorensemble Pygmalion, das sich sehr schnell an die Spitze der gegenwärtigen historisch informierten Originalklangbewegung musiziert hat, wie ein Familientreffen. „Qualitäts- und Familienzeit ist uns Bach-Zeit. So wie er selbst eine große Familie hatte, so treffen sich Pichon & Friends schon immer mit Bach als Kontinuum. Und diese praktischen Erfahrungen wollen wir nun in seinem Spitzenwerk teilen mit einem Maximum an Menschen. Sie sollen erleben, wie wir neue Perspektiven kreieren, wie wir Bachs Erbe durchdringen und damit umgehen. Die Leute sind so hungrig nach Geschichten, und es ist so schön, welche zu erzählen. Mit Bach ist das eigentlich ganz einfach, weil er einer der besten dramatischen Genies war, der ganz universelle, bis heute aktuelle Vorgänge glaubhaft erzählen konnte. Das ist wie eine uralte orale Tradition – wunderbar, dass die hier weitergeht.“
Obwohl es zunächst 2021, mitten im zweiten Corona-Lockdown, der gerade Frankreich besonders hart traf, gar nicht danach aussah. Die Aufnahme fand nach einem Konzert beim Osterfestival in Aix-en-Provence, ohne Publikum nur als Stream für Arte, in der Pariser Philharmonie statt. Eine nachfolgende Tour nach Deutschland musste abgesagt werden, aber dafür wurden plötzlich davor noch zwei Konzerte in Spanien, sogar mit Zuschauern, in Barcelona und Pamplona möglich. „Die Spannung, aber auch der Stress, weil nur sehr wenig Zeit war, aufzunehmen, war zu spüren. Alle waren sehr konzentriert und fokussiert.“
Dann wurden aber acht Mitwirkende zwischen Aix und den Pariser Aufnahmetagen positiv getestet. Das schuf noch einmal große Solidarität, aber man verlor eineinhalb Aufnahmetage, bis diese ersetzt waren. So blieben nur drei Tage für alles übrig, zudem stand die Boulez-Halle höchstens sechs Stunden am Tag zur Verfügung. „So gab jeder sein Maximum, und das hört man, glaube ich.“
„Heute eine Studio-CD zu machen, das ist total anders als früher. Die Regeln und Möglichkeiten sind völlig verschieden. Man soll nur das machen, was man in diesem Moment teilen will und muss. Wir haben 15 Jahre lang in einer Weise genau auf diesen Moment hingearbeitet, als einzigartige Gruppe von Musikern, inmitten der Pandemie wurde uns das noch mehr bewusst. Wir haben alle unsere Erfahrungen zusammengenommen, und es hat sofort klick gemacht. Dass wir dann so wenig Zeit hatten, war fast wie ein Geschenk, welches diesen Prozess noch einmal intensiviert hat.“
Er konnte in dem Moment nur noch positiv denken, bekennt Raphaël Pichon. Und so auch seine wunderbaren Sänger, Julian Prégardien als Erzähler und Stéphane Degout als Christus. Zudem sind seine Frau Sabine Devieilhe und Hana Blažíková als Sopranistinnen, die altsatte Lucile Richardot und Countertenor Tim Mead, die Tenöre Reinoud Van Mechelen und Emiliano Gonzalez Toro sowie der Bass Christian Immler mit von dieser Bach-Partie.
„Ich wollte unbedingt einen sehr kleinen Chor, um genau der Partitur zu folgen, was nicht alle machen“, sagt Raphaël Pichon. „Und ich wollte das mit diesen Künstlern teilen, die mir so verbunden sind. Es ist ein Akt der Freundschaft, wie der gemeinsamen, ehrlichen Liebe zu Bach.“
Der noch nicht beendet ist. Denn – Synthese und Entwicklung –, nun startet ein neues Bach-Projekt. „Die Wege von Bach“, so heißt es, soll drei Jahre in Folge jeweils ein neues Triptychon zeigen, zunächst eines der Oratorien. Also geht es los mit „Christus“, drei Abende und drei Kapitel, erst über die Geburt mit Auszügen aus dem Weihnachtsoratorium und Kantaten, dann „Leiden“ mit Auszügen aus der Matthäus-­Passion und schließlich „Auferstehung“ mit dem Osteroratorium.
Der nächste Dreisprung handelt von der Bach-Familie und soll Wurzeln und Vorgänger zeigen, die musikalischen Entdeckungen, die Bach in seinen frühen Jahren gemacht hat, in Lüneburg, Celle, Lübeck, Buxtehude. Und 2023/24 folgt das finale Triptychon, das auf drei Kantaten-Zyklen beruht: „Da wollen wir mit Pygmalion zu Fuß von Arnstadt nach Lübeck wandern, um seinen eigenen Lebensspielraum auszugehen. Es wird Konzerte und Education-Projekte buchstäblich am Wegesrand geben.“

Neu erschienen:

Bach

Matthäus-Passion BWV 244

mit Prégardien, Devieilhe, Richardot, Van Mechelen, Degout, Blažíková, Mead, Maîtrise de Radio France, Pygmalion, Pichon

hm

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Matthias Siehler, 26.03.2022, RONDO Ausgabe 2 / 2022



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