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N° 1354
20. - 29.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Versunken in Musik. Das Kronos Quartet, Artists in residence 2022, gab ein Konzert im Aquarium von Bergen (c) Thor Brødreskift

Bergen International Festival

Musik, natürlich

Spektakulär ist beim Bergen Festival vor allem die Natur – viel Raum, um die Kunst nachhallen zu lassen.

Dieser Bergblick raubt dem Besucher einfach den Atem: Die schier endlose Weite, die zahllosen imposanten Fjorde, die traumhaft schöne Natur, die majestätischen Gipfel im Hinterland – ein Ausflug mit der Standseilbahn auf Bergens Stadtberg Fløyen ist nicht nur für Liebhaber überwältigender Natur-Panoramen pures Glück, sondern auch für alle Kulturfreunde, die sich in diesen Tagen durch Norwegens zweitgrößte Stadt mit ihren 280.000 Einwohnern treiben lassen. Zum einen, um neben der Fülle der Veranstaltungen, die das Bergen International Festival über zwei Wochen noch bis zum 8. Juni in den Sparten Konzert, Oper, Schauspiel, Ballett und bildende Kunst bietet, auch einmal die ebenso märchenhaft-romantische wie einzigartige Landschaft in ihrer Gänze wahrzunehmen; zum anderen aber auch, um in der Weite und Stille des Bergplateaus die Festspiel-Eindrücke nachwirken zu lassen. Und so zumindest eine Ahnung davon zu bekommen, welche Bilder einst Edward Grieg zu seinen Kompositionen inspiriert haben mögen …
Denn Norwegens musikalischer Nationalheiliger ward hier nicht nur 1843 geboren und leitete später für zwei Jahre die Bergener Philharmoniker, sondern erwarb auch auf einer felsigen Landzunge südlich der Stadt eine zugewachsene und wilde Bergkuppe und verwirklichte dort seinen Traum vom eigenen Heim. Troldhaugen („Trollhügel“) nannten der Komponist und seine Frau Nina das Refugium, das heute Museum ist und zu dessen Füßen sich noch immer jene Komponistenhütte findet, in die sich Grieg zum Schreiben zurückzog, um den Blick dann oft stundenlang über das Wasser schweifen zu lassen. Wer heute dort steht, dem wird rasch klar, woher das Wilde und bisweilen Archaische in Werken wie ‚Peer Gynt‘ kommt – „es ist wirklich sehr speziell für mich hier zu sein“, bekennt auch Pianist Tom Poster. Für ein Rezital ist der Brite, der in seiner Heimat schon lange als Star gefeiert wird, in des Komponisten einstiges Wohnzimmer mit seinen honigfarbenen Holzwänden gekommen und führt nun charmant durch sein Programm. „Grieg war der der erste Komponist, in dessen Musik ich mich verliebt habe“, erzählt der 40-Jährige und lässt hernach den „Schmetterling“ aus dessen „Lyrischen Stücken“ durch den Raum flattern, während draußen vor dem Fenster im milden Abendlicht der Wind die Äste der alten Bäume zärtlich bewegt …

Festliches und Friktionen

Es sind eben diese verwunschen-historischen Spielstätten, die Jahr für Jahr auch mehrere tausend ausländische Gäste unter den rund 100.000 Besuchern zu den Festspielen locken: verträumte Residenzen wie Troldhaugen, das Anwesen Siljustøl des Komponisten Harald Sæverud oder auch die prachtvolle Villa des norwegischen Paganini Ole Bull auf der winzigen Insel Lysøen. Zumal die Stadt selbst ebenfalls mit Historie zu punkten vermag wie dem inzwischen zum Weltkulturerbe ernannten Hanseviertel Bryggen, dessen traditionelle Häuser als dicht nebeneinander liegende langgestreckte, seit dem Mittelalter mit ihrer Front zum Hafenkai hingewandten Höfe nicht nur zahllose Postkarten schmücken, sondern Tag für Tag noch mehr Touristen aus aller Welt anziehen. Mag Atmosphäre auch nicht alles sein, spielen die Veranstaltungsorte doch hier eine große Rolle, da das Festival in verschiedener Hinsicht eng mit der Stadt verbunden ist und diese gern auch über die abendlichen Aufführungen hinaus bespielt. Sei es im Großen gleich zum Auftakt in der breiten Haupteinkaufsmeile Torgallmenningen zwischen Johanneskirche und Hafen, wo sich rund 3500 Besucher trotz dunkler Regenwolken um die Mittagszeit vor der Open-Air-Bühne versammelten und Norwegens berühmtester Pianist (und Bergener) Leif Ove Andsnes unter Möwengekreische durch ein kurzweiliges Programm führte – oder im Kleinen, wenn in der Fußgängerzone die Tänzerin Mathilde Caeyers auf wenigen Quadratmetern in einer mit bunten Scheiben versehen Box zum interaktiven Projekt „Lux Tempus“ bittet und die jüngsten Zuschauer hernach ihrer Einladung folgen und gemeinsam fröhlich jauchzend über die Mini-Bühne stolpern.
„Festivities – Foundations – Friction“ hat der langjährige Intendant Anders Beyer die Leitlinien für die Festspiele betitelt und damit den weiten programmatischen Bogen geschlagen von Entertainment über traditionelle Konzerte bis hin zu unbekümmerten Experimenten. Inzwischen ist der ideenreiche Däne zwar aufgrund einer „MeToo“-Affäre nicht mehr dabei – seine Position als künstlerischer Leiter soll er für eine private Liaison ausgenutzt haben – doch das diesjährige Programm trägt natürlich seine Handschrift und sein seit einem Monat amtierender Nachfolger Lars Petter Hagen sieht sich in diesen Festivaltagen vor allem als Lernender. Entsprechend zurückhaltend formuliert der norwegische Komponist auch seine Festspiel-Pläne für die Zukunft: Er wolle „offene Fragen stellen und den Dialog zwischen Künstlern, Kunstformen und der Öffentlichkeit, lokal und global, fördern und das Festival als kreativen Knotenpunkt entwickeln“, sagt der 46jährige. Nun, wie auch immer letzterer dann in Zukunft aussehen mag, Unterstützung erfährt Hagen bei seinen Plänen bis hinein in die höchsten Regierungspositionen: Nicht nur, dass Norwegens Kulturministerin Anette Trettebergstuen dem Festival zum Auftakt „internationales Format“ attestierte und fast 60 Prozent des diesjährigen Festival-Etats von 6,75 Millionen Euro aus öffentlichen Kassen stammen, selbst Ministerpräsident Jonas Gahr Støre kam zur Begrüßung vorbei. Und Norwegens kunstbegeisterte Königin Sonja ließ es sich am Eröffnungsabend nicht nehmen, Drag-Künstler Taylor Mac persönlich den Dankes-Blumenstrauß zu überreichen – obwohl der Schauspieler bei der Weltpremiere seines neuen Programms mit den Bergener Philharmonikern weder in puncto royaler Höflichkeit noch hinsichtlich der Originalität überzeugt hatte …
Weitaus königlicher kamen und kommen da schon die Håkonshallen daher: Einst Residenz der norwegischen Herrscher – König Håkon Håkonsson ließ hier im 13. Jahrhundert das größte und prunkvollste Bauwerk seines Hofes errichten – punktet der gotische Saal bis heute mit einer feinen, keineswegs halligen Akustik. Und beeindruckt nicht nur (ausländische) Besucher, sondern selbst weitgereiste Musiker wie das Kronos Quartet, in diesem Jahr „Artist(s) in Residence“ der Festspiele. Schockieren tun die grau gewordenen Urväter der Moderne-Interpretation heute naturgemäß keinen mehr mit ihrer Werksauswahl von Nina Simone bis Terry Riley und vermitteln doch in musikalischer Hinsicht vielleicht noch am ehesten die Festival-Intention „Friction“. Aber vielleicht braucht es hier im Norden auch gar nicht die ganz großen Festspiel-Aufbrüche, solange das Erlebte auf solch unvergleichliche Weise nachklingen kann wie auf einer Kanutour über den idyllischen Skomakerdiket-See auf dem Gipfelplateau des Fløyen …

www.fib.no/en

Salzburg am Nordkap

Fanny Elstad hatte große Pläne, als sie 1953 nach Triumphen in Salzburg, Wien und Bayreuth ihre Karriere beendete und nach Norwegen zurückkehrte – und das Bergen International Festival gründete. Als Wagner-Sängerin in den mitteleuropäischen Kulturmetropolen gefeiert, wollte die Primadonna künftig auch in der beschaulichen Fjord-Stadt eine Festspiel-Kultur begründen, die Stars aller Sparten und Besucher aus aller Welt in ihre Heimat locken sollte. Und das Experiment ging auf: Heute ist Elstads „Kind“ nicht nur Nordeuropas größtes Mehrspartenfestival, sondern feiert 2022 mit seiner 70. Ausgabe schon ein ehrwürdiges Jubiläum in der Festival-Welt.

Christoph Forsthoff, 04.06.2022, Online-Artikel



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