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N° 1354
20. - 30.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Martin Wåhlberg (c) Rob Wheal

Orkester Nord

Stürmen und Drängen

Auf seinem neuen Album mit Werken von Mozart und Grétry begibt sich das Ensemble aus Trondheim auf Zeitreise ins Jahr 1773.

Im Kontext der europäischen Geschichte verhält sich das Jahr 1773 eher unauffällig. Während am anderen Ende der Welt James Cook den südlichen Polarkreis erkundet, lässt die Französische Revolution noch immer auf sich warten; Aufstände in Russland und Nordamerika werfen nur leichte Schatten voraus. Immerhin ist die Aufklärung in vollem Gange, und in Salzburg komponiert der 17-jährige Hofmusiker Wolfgang Amadeus Mozart eine Sinfonie in g-Moll, die in ihrem Stürmen und Drängen bereits die einschneidenden Umwälzungen des kommenden Jahrzehnts vorwegzunehmen scheint: Ein wahrlich revolutionäres Stück, dessen herausgestellte Synkopen, Dissonanzen und Instrumentaleffekte nicht recht zum sonst am Salzburger Hof so geschätzten galanten Stil passen wollen. Ebenfalls 1773 beschäftigt sich Mozart mit einer Bühnenmusik zu „Thamos, König in Ägypten“, einem „heroischen Drama“ des Staatsbeamten und Gelegenheitsdichters Tobias Philipp von Gebler, zu dessen Aufführung der junge Komponist drei Chöre und fünf Zwischenaktmusiken beisteuert. Dass die Musik das apokryphe Schauspiel überlebte, liegt nicht nur an der Prominenz ihres Schöpfers. Mit ihren dramatischen Gesten, ihrer theatralischen Lebendigkeit spricht sie noch heute unmittelbar zu uns. Die später als „kleine g-Moll-Sinfonie“ in den Kanon eingehende Sinfonie mit der KV-Nummer 183 und die Instrumentalstücke aus „Thamos“, man könnte sie für musikalische Geschwister halten.
„Man kann sich kaum vorstellen, wie schockierend diese ‚neue Musik‘ damals auf das Publikum gewirkt haben muss“, sagt Martin Wåhlberg, Leiter des Orkester Nord und in dieser Eigenschaft Spiritus Rector eines der führenden skandinavischen Ensembles für historische Aufführungspraxis, das 2009 unter dem Namen „Trondheim Barokk“ in Norwegens drittgrößter Stadt gegründet wurde. Mit seinem Orchester hat Wåhlberg die Mozart-Stücke für sein Stammlabel aufgenommen, das daraus entstandene Album hat er nach dem Entstehungsjahr „1773“ benannt. „Die gesamte Instrumentalmusik dieser Zeit steht noch ganz unter dem Einfluss der Bühne – die wiederum ganz im Zeichen der Aufklärung steht. Und das möchten wir zeigen“, sagt der Dirigent und Cellist, der in seinem zweiten Hauptberuf als Professor für vergleichende Literaturwissenschaften an der Universität Trondheim seinen Fokus auf das Frankreich des 18. Jahrhunderts gelegt hat. Sein profundes Wissen auf diesem Gebiet offenbart ihm Bezüge, die anderen möglicherweise verborgen bleiben.
Einer davon ist der Einfluss der französischen Musikkultur auf Mozart, der zwar erst 1778 für ein kurzes (und wenig erfolgreiches) Intermezzo nach Paris reiste, zuvor aber schon Partituren französischer Komponisten studiert und ihre Werke auf der Bühne kennengelernt hatte. „Von ganz entscheidender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Opéra-comique, eine damals neue Form der Oper mit straffer Handlungsfülle“, erklärt Wåhlberg und verweist auf die Novität der Gattung, die mit ihren gesprochenen Dialogen die Musik förmlich zwingt, sich auf engem Raum möglichst dicht zu entfalten. In ihrer gerafften Energie gilt das auch für die eingespielten Mozart-Stücke, in denen sich tatsächlich Parallelen zum Werk eines anderen Komponisten seiner Zeit wiederfinden. Die Rede ist von André-Ernest-Modeste Grétry, der die Opéra-comique vorantrieb und noch lange nach seinem Tod 1813 ein großes internationales Ansehen genoss. Dass sein Werk heute wiederentdeckt wird, ist nicht zuletzt Martin Wåhlberg und seinem Orkester Nord zu verdanken, die bereits 2018 eine Aufnahme von Grétrys „Raoul Barbe-bleue“ vorgelegt haben.
Im Jahr 1773 beschäftigte sich der belgisch-französische Komponist u. a. mit dem Ballet-héroïque „Céphale et Procris“, aus dem Wåhlberg eine Auswahl getroffen und mit der aus dem gleichen Jahr stammenden Musik Mozarts kombiniert hat. Zwar keine Opéra-comique, doch ein Werk, das an seinen rein instrumentalen Stellen exemplarisch die sinfonischen Fähigkeiten Grétrys demonstriert – der sonst als Sinfoniker nicht in Erscheinung getreten ist. Hier kann man tatsächlich hören, wie nahe sich im 18. Jahrhundert die Musik der Bühne und des Konzertsaals standen. Auch wenn Pioniere wie Joseph Haydn am abgelegenen Hof der Fürsten Esterházy in Eisenstadt an ihrer Emanzipation arbeiteten: „Wirklich eigenständig wurde die Sinfonie erst im 19. Jahrhundert“, sagt Martin Wåhlberg, „bei Mozart spürt man noch an allen Enden deutlich ihre Herkunft aus der Oper.“ Die Interpretation des hier vergleichsweise groß besetzten Orkester Nord unterstreicht dies mit einer rasant zugespitzten, auf dramatische, geradezu theatrale Verdeutlichung hinarbeitenden Interpretation. „Viele Musiker und Dirigenten würden am liebsten direkt in den Kopf des Komponisten schauen“, sagt Wåhlberg. „Unser Ansatz ist, dass wir uns in die Interpreten von damals hineinzuversetzen versuchen und in die Situation, die sie vor Ort vorfanden.“ So virtuos wie auf dem Album hätte man Mozarts und Grétrys Musik damals wahrscheinlich bei den Concerts spirituels hören können, jener üppig ausgestatteten, von den besten Musikern weit und breit bestrittenen Pariser Konzertreihe, die im 18. Jahrhundert zur Legende wurde. „1773“: wahrlich eine Zeitreise.

Neu erschienen:

„1773: Mozart & Grétry“

Orkester Nord, Martin Wåhlberg

Aparté/hm

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Stephan Schwarz-Peters, 15.10.2022, RONDO Ausgabe 5 / 2022



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