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(c) Fethi Karaduman
Wenn die Anekdote stimmt, scheint es für Fazıl Say keinen idealeren geistig-musikalischen Frühsport zu geben als die Musik von Johann Sebastian Bach. Schließlich, so ist in manchen Pressenotizen zu lesen, setzt er sich seit seinem sechsten Lebensjahr und damit nach Adam Riese seit nunmehr 46 Jahren Morgen für Morgen ans Klavier – und spielt etwas vom Barockmeister. Ähnlich geht zwar auch der Kollege András Schiff schon seit einer halben Ewigkeit in den Tag. Doch im Gegensatz zu ihm hat Fazıl Say aus seiner Bach-Liebe und -Bewunderung bislang auf Tonträger eher ein Geheimnis gemacht. So finden sich in der beachtlichen Diskografie des türkischen Pianisten, Komponisten und überhaupt Workaholics Aufnahmen von Mozart und Gershwin, Beethoven und zahllose eigene Klavier- und Orchesterwerke. Doch seine einzige Bach-Aufnahme von 1999 taucht da eher beiläufig, versteckt auf.
Nun aber hat er es endlich wieder getan. Und mit seiner Neueinspielung der „Goldberg-Variationen“ lässt er sogleich nahezu die gesamte Konkurrenz hinter sich – um sich direkt zwischen die Referenzaufnahmen von Glenn Gould, András Schiff und Alexandre Tharaud einzureihen. So erkundet und entdeckt Say allein in der „Aria“ des Eingangs mit intellektuell unverkrampft leichter Hand und leuchtendem Ton Seitenräume und -wege, die man tatsächlich bei diesem barocken Welthit so noch nie wahrgenommen hat. Und was dann den klar geschliffenen Drive angeht, den Blick selbst für die reichen, strukturprägenden Verzierungen oder die Verschmelzung von (kontrapunktischer) Kunst mit (tänzelnder) Unterhaltung – Bachs Variationskosmos liegt bei Fazıl Say auch deswegen in den besten Händen, weil der ansonsten ja als musikalischer Tausendsassa umtriebige Musiker ziemlich bei den Noten bleibt. Von Jazz-Appeal oder weltmusikalischen Einfärbungen keine Spur.
„Ich wollte, dass meine Interpretation den einzigartigen Gesang, Tanz und die Geschichte jedes Teils des Stücks vermittelt“, so der 52-Jährige über sein Konzept. „Besonders hilfreich war, dass ich die verschiedenen Charaktere seiner Suiten kannte und seine Kantaten, Oratorien und Fugen in der Vergangenheit verschiedentlich analysiert hatte.“ Im Laufe der ungefähr 3000 Konzerte, die Fazıl Say in den letzten Jahrzehnten weltweit gegeben hat, standen die „Goldberg-Variationen“ immer wieder auf dem Programm. Doch erst jetzt fühlte er sich reif für eine Aufnahme. Besonders in den Anfängen der Pandemie fand er die Ruhe und Muße, um Note für Note in dieses Werk noch intensiver einzutauchen. Denn für Say gilt: „Der Musiker kann die ‚metaphysische Physik‘ des Werks nur überwinden, wenn er es bis zur Perfektion gelernt und ein tiefes Verständnis dafür entwickelt hat.“ Aufgenommen wurden die „Goldberg-Variationen“ im Frühjahr 2022 im Auditorium des Ahmet Adnan Saygun-Kunstzentrums in İzmir. Und auch wenn Fazıl Say sich jetzt äußerst zufrieden, gar beglückt vom Ergebnis zeigt, so schaut er mit einem Auge schon in die Zukunft: „Sich einem solchen musikalischen Werk zu nähern, ist eine lebenslange Reise. Wer weiß? Vielleicht beschließen wir in einigen Jahren, nachdem wir neue Entdeckungen gemacht haben, alles noch einmal aufzunehmen.“ Bis dahin müssen aber ja nicht wieder 20 Jahre ins Land gehen.
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