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N° 1354
20. - 29.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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(c) wildundleise

Raphaela Gromes

Zurück ins Licht

Auf ihrem neuen Album „Femmes“ gibt die Cellistin einen Einblick in 900 Jahre weiblicher Musikgeschichte.

Als Hildegard von Bingen (1098–1179) ihren Gesang „O virtus sapientiae“ niederschrieb, war das Cello noch lange nicht erfunden. Und doch scheint sein Klang wie geschaffen für die mystische Aura, die die universalgelehrte Äbtissin, Visionärin und Musikerin in dieser Komposition heraufbeschwört. Bereits der Auftakt zu Raphaela Gromes’ neuem Album lässt ahnen, welch außergewöhnliche musikalische Abenteuer hier auf einen warten. Sein Titel „Femmes“ fasst das Programm treffend zusammen: Hier steht die Musik von Frauen im Mittelpunkt – Werke von Komponistinnen, die nicht minder kreativ und produktiv waren als ihre männlichen Kollegen, zu ihren Zeiten aber nur wenig Gehör fanden und kaum die Chance, in der Musikgeschichte Fuß zu fassen. Mag sein, dass es hier besonders privilegierte Ausnahmen gab, wie die eingangs erwähnte Benediktinerin Hildegard oder die an der Spitze einer ständisch organisierten Gesellschaft stehende Maria Antonia Walpurgis von Bayern (1724–1780), sächsische Kurfürstin und zugleich eine begabte, professionell ausgebildete Opernkomponistin. Andere jedoch, Mendelssohn Bartholdys Schwester Fanny Hensel oder die Afro-Amerikanerin Florence Price (1887–1953) zum Beispiel, werden in ihrem kompositorischen Schaffen noch immer häufig belächelt, behindert oder schlicht übersehen.
„Der Anstoß für das Album kam von einer Freundin, die mit Entsetzen festgestellt hatte, wie wenig präsent die Musik von Frauen in den Konzertsälen ist“, berichtet Raphaela Gromes, deren Repertoire als Cellistin sich traditionell – von Haydn bis Dvořák, von Beethoven bis Saint-Saëns – ebenfalls aus Kompositionen von Männern zusammensetzt. Als sie sich dazu entschloss, diesem Missstand diskografisch entgegenzutreten, ahnte sie nicht, auf welches Mammutprojekt sie sich eingelassen hatte. Entstanden ist das Album „Femmes“, ein zwei CDs füllendes Doppelalbum, innerhalb von zwei Jahren. Ein kurzer Zeitraum, wenn man bedenkt, welchen Aufwand allein die Recherche forderte. Raphaela Gromes musste sich durch Tonnen von Notenmaterial wühlen, darunter neben Originalliteratur für Cello auch solche Werke, die sich trotz anderer Besetzung für dieses Instrument eignen. „Wir hatten von Anfang an die Idee, Stücke zu arrangieren“, sagt sie – und meint mit „wir“ sich selbst und ihren langjährigen musikalischen Partner Julian Riem, der nicht nur ein begnadeter Pianist, sondern auch ein versierter, fantasievoller Bearbeiter ist.

Belächelt, verkannt, wiederentdeckt

Riem hat auch dafür gesorgt, dass die meisten Stücke auf dem Album in Begleitung einer prominenten Streicherformation erklingen. „Vor vier Jahren haben wir die erste gemeinsame Tournee mit den Lucerne Festival Strings gemacht, und schon beim ersten Konzert kam mir der Gedanke, dass ich irgendwann mal etwas mit ihnen aufnehmen wollte“, sagt Raphaela Gromes, die sich nicht nur über die gelungene künstlerische Zusammenarbeit freut, sondern auch darüber, dass Teile der Aufnahme im Kultur- und Kongresszentrum Luzern (KKL) verwirklicht werden konnten, einem der besten Konzertsäle der Welt. Gemeinsam mit dem Streichorchester forstet sich die Cellistin auf „Femmes“ durch insgesamt 900 Jahre weiblicher Musikgeschichte, wobei die Schwerpunkte im 19. und frühen 20. Jahrhundert liegen: Zeiten, in denen die Männergesellschaft zaghaft anfing, Frauen elementare Rechte einzuräumen. Vertreten aus dieser Epoche sind namhafte Musikerinnen wie die vor allem als Sängerin zu Ruhm gelangte Pauline Viardot-García, von der bereits Robert Schumann schwärmte, während er gleichzeitig den Kompositionen seiner eigenen Frau Clara nur wenig Achtung entgegenbrachte. Auch sie ist eine der prominenten Figuren auf „Femmes“, ebenso wie die Französinnen Nadia und Lili Boulanger sowie Cécile Chaminade, die Italienerin Matilde Capuis, die Polin Grażyna ­Bacewicz, die Niederländerin Henriëtte Bosmans oder die Amerikanerin Amy Beach.
„Tolle Unterstützung bei der Auswahl hatten wir durch das Archiv Frau und Musik, mit dem ich erstmals 2017 bei meinem Album ‚Serenata Italiana‘ zusammengearbeitet habe,“ sagt Raphaela Gromes. Die heute in Frankfurt angesiedelte Institution, die größte und vielfältigste ihrer Art weltweit, dokumentiert und erforscht seit 1979 das Schaffen komponierender Frauen vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart. Da die weibliche Musikgeschichte keineswegs vor dem Zweiten Weltkrieg endet, haben Raphaela Gromes und Julian Riem auch zeitgenössischen Komponistinnen wie der russischstämmigen Österreicherin Lera Auerbach (*1973) und sogar der jungen US-amerikanischen Chartstürmerin Billie Eilish einen Platz auf „Femmes“ eingeräumt, letzterer mit ihrem 2021 erschienenen James-Bond-Titel „No Time To Die“, der das Album in einem schlichten Arrangement für Cello und Klavier beschließt. Die reale Geschichte, die jede einzelne der auf „Femmes“ mit ihren Kompositionen vorgestellte Frau mitbringt, wird darüber hinaus durch fiktive Erzählungen ergänzt: weibliche Schicksale, von denen die Meister der Oper berichten, darunter starke, tragische und selbstbewusste Charaktere aus unterschiedlichen Epochen und Gesellschaftsschichten, von der Karthagerkönigin Dido bis zum Dienstmädchen Susanna, von der Amazonenanführerin Talestri bis zur Fabrikarbeiterin Carmen. Mit zentralen Ausschnitten aus „Dido And Aeneas“ (Purcell), „Le nozze di Figaro“ (Mozart) oder „Carmen“ (Bizet) ist so auch Musik von männlichen Komponisten zu hören. Anderes aus weiblicher Feder, was Raphaela Gromes bei ihrer Recherche entdeckte und lieben lernte, hat es hingegen schon allein des Umfangs wegen nicht auf das Album geschafft – etwa die Cello-Sonaten von Emilie Mayer oder Luise Adolpha Le Beau. Werke wie diese aber möchte Raphaela Gromes dafür in Zukunft häufiger im Konzertsaal spielen. So wurde sie selbst durch ihr eigenes Album angeregt, der Musik von Frauen in der Öffentlichkeit mehr Gehör zu verschaffen.

Hildegard von Bingen, Maria Antonia Walpurgis von Bayern, Fanny Hensel, Florence Price u.a.

„Femmes“

Raphaela Gromes, Julian Riem, Festival Strings Lucerne

2 CDs, Sony

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Stephan Schwarz-Peters, 11.02.2023, RONDO Ausgabe 1 / 2023



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