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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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(c) Kaupo Kikkas

Ragnhild Hemsing

Der Klang der Zwillingsschwestern

Auf ihrem neuen Album vereint die Norwegerin romantische Werke für Violine, Hardangerfiedel und Orchester.

Vier Saiten, Griffbrett, Steg, zwei F-Löcher und ein klassisch gebogener Korpus: Denkt man sich die aufwendig gemalten oder als Intarsien aus Schildpatt ausgeführten Verzierungen und die figural, oft drachenköpfig geschnitzte Schnecke weg, könnten Hardangerfiedel und Geige fast Zwillingsschwestern sein. Doch schon ein genauerer Blick auf die Bauweise verrät, dass es sich um zwei durchaus unterschiedliche Instrumente handelt. Im Gegensatz zur Geige, verfügt das norwegische Volksinstrument, benannt nach der zentral-südlichen Region Hardanger, über zusätzliche Resonanzsaiten unter dem Steg, die beim Spielen mitschwingen und einen leicht schnarrenden, gambenartigen Ton hervorbringen. So erklärt sich auch die doppelte Anzahl der Stimmwirbel. „Die Tonproduktion auf der Hardangerfiedel funktioniert ganz anders als auf der Geige“, erklärt Ragnhild Hemsing. „Während ich hier mehr Druck ausüben muss, um einen runden Ton hervorzubringen, ist die Bogenhaltung bei der Fiedel eher wie bei einer Barockgeige: sehr leicht, und man spielt auch nicht mit Vibrato.“ Die groben und feinen Abweichungen beim Musizieren auf beiden Streichinstrumenten, zu der auch die unterschiedliche Stimmung gehört, kennt wohl niemand so gut, wie die norwegische Musikerin. Virtuos switcht sie – oft während eines einzigen Konzerts – zwischen Geige und Hardangerfiedel hin und her, und auf beiden Instrumenten ist sie auch auf ihrem neuen Album mit dem Philharmonischen Orchester Bergen und dem Dirigenten Eivind Aadland zu hören.
„Was die Stücke auf dem Album eint, sind die romantische Tradition, aus der sie kommen, und ihre Verbindung zur Folklore“, erklärt Ragnhild Hemsing, die im zentralen südlichen Norwegen geboren wurde und seit ihrer frühen Kindheit parallel das Spiel auf Violine und Hardangerfiedel lernte. So wuchs sie einerseits mit dem „klassischen“ Repertoire auf und andererseits mit der volkstümlichen Musik, die in ihrem Heimatland noch immer einen hohen Stellenwert hat und auch von der jüngeren Generation gepflegt wird. Den Anfang ihres neuen Albums macht Max Bruch (1838–1920), jener romantische deutsche Komponist, der in seinem ersten Violinkonzert zwar nicht unmittelbar auf folkloristische Themen zurückgreift, aber in Titeln wie dem der „Schottischen Fantasie“ oder der „Schwedischen Tänze“ seine Inspirationsquellen andeutet. Das g-Moll-Konzert aus den Jahren 1866-68 stellt den musikgeschichtlich seltenen Fall dar, dass es bereits zu Bruchs Lebzeiten berühmter war als sein Verfasser – worüber sich dieser höchst unglücklich zeigte. Im Gegensatz zu Max Bruch liebt Ragnhild Hemsing das Stück, das sie bereits seit ihrer Jugend spielt und auch schon immer einmal aufnehmen wollte.

Norwegische Romantik

Wie Bruch hatte auch Johan Svendsen (1840–1911) am Leipziger Konservatorium studiert. Er ist einer der drei norwegischen Komponisten, die Ragnhild Hemsing auf ihrem Album zu Wort kommen lässt. Mit seiner im Moment glücklichster Inspiration leicht dahin geworfenen „Romanze“ für Violine und Orchester schuf Svendsen Ende des 19. Jahrhunderts einen Konzertsaalhit, der sich noch heute großer Beliebtheit erfreut. Wie die Musik seines großen Landsmanns Edvard Grieg gilt auch seine berühmteste Schöpfung vielen als Inbegriff der norwegischen Musik – eine Typologisierung, die mit bestimmten Merkmalen wie Melodiebildung, Rhythmus oder Harmonisierung zu tun hat, für Ragnhild Hemsing aber auch eine persönliche Bedeutung hat, empfindet sie Musik doch dann als typisch „norwegisch“, „wenn ich beim Hören oder Spielen die Berge und die Fjorde vor mir sehe und mich einfach ganz norwegisch fühle“. Anregend hierfür bietet die Beschäftigung mit der reichen norwegischen Mythologie, die auch den viel zu früh verstorbenen Komponisten Sigurd Lie (1871–1904) zu seinem Konzertstück „Huldra aa’n Elland“ inspirierte: die in poetische Töne gefasste Liebesgeschichte eines jungen Talbewohners zu einem betörenden weiblichen Fabelwesen, die – wie eigentlich alle Liebesgeschichten in dieser Konstellation – tragisch endet: das dritte Stück auf Hemsings Album.
Was fehlt? Die Hardangerfiedel natürlich, auf der die Virtuosin am Schluss des Albums zu hören ist: mit dem zweiten Konzert, das Geirr Tveitt (1908–1981) für das ihm so wohlvertraute Instrument schrieb und darin drei Fjorden seines Heimatlandes tönende Denkmale setzte. Aus dem Jahr 1965 stammend, handelt es sich um das einzige Stück des Albums, das sich mit originalen Quellen aus der norwegischen Volksmusik auseinandersetzt. Der (wiederum) in Leipzig, Paris und Wien ausgebildete Tveitt war, nachdem er die Welt bereist hatte, in die Abgeschiedenheit der norwegischen Region Hardanger zurückgekehrt, um nach verschollenen Weisen zu suchen, um sie für seine meist um große sinfonischen Formen kreisende Musik fruchtbar zu machen. Rätselhafterweise gehört er zu den wenigen Komponisten Norwegens, die die Hardangerfiedel in ihr Werk integriert haben; selbst beim großen Vorreiter der norwegischen Musik, Edvard Grieg, taucht ihr schwebend-leichter, manchmal rauchiger Klang nur als Allusion auf. Vielleicht hätte er eine Musikerin wie Ragnhild Hemsing kennen müssen, der es gelingt, den volkstümlichen Charakter des Instruments überzeugend in die Sphäre der sinfonischen Musik zu übertragen. Wie es geht, zeigt ihr neues Album.

Neu erschienen:

Max Bruch, Geirr Tveitt

Violinkonzerte

Ragnhild Hemsing, Philharmonisches Orchester Bergen, Eivind Aadland

Berlin Classics/Edel

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Stephan Schwarz-Peters, 25.03.2023, RONDO Ausgabe 2 / 2023



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