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N° 1354
20. - 29.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Villa Senar (c) Kanton Luzern/Yannick Röösli

Villa Senar

Rachmaninows Refugium

Am Vierwaldstättersee in der Schweiz fand der russische Pianist einst einen Zufluchtsort. Zu seinem 150. Geburtstag wird sein Sommersitz, die Villa Senar, als Kultur- und Bildungszentrum für alle zugänglich.

Sergei Rachmaninow erlebte das, was viele Künstler auch in heutigen Zeiten durchmachen. International als Komponist, Pianist und Dirigent gefeiert, sah er sich aus politischen Gründen dazu gezwungen, ins Exil zu gehen. Unter der Herrschaft der Bolschewisten würde seine Karriere jäh enden, ahnte er. Kurz nach der Oktoberrevolution 1917 verließ er daher mit seiner Familie Russland, es sollte ein Abschied für immer sein. Rachmaninow führte fortan ein rastloses Leben. Als Pianist genoss er in Europa und in den USA Starruhm, heimisch wurde er im Ausland aber nicht.
Nicht weit von Luzern fand er schließlich 1930 ein Grundstück am Vierwaldstättersee, das für mehrere Sommer zu einem Refugium werden sollte. In der Nähe hatte er glückliche Flitterwochen mit seiner Frau Natalia verbracht. Auf der Halbinsel Hertenstein ließ Rachmaninow nun von den Schweizer Architekten Alfred Möri und Karl Friedrich Krebs die Villa Senar bauen – der Name des Domizils setzt sich aus den Initialen des Ehepaares zusammen.
„Ich stehe hier, freue mich an dem Anblick und stelle mir vor, welche Schönheit in meinem Zimmer mit dem großen Fenster herrschen wird“, schrieb er an seine Schwägerin Sofia Satina, als die Arbeiten noch auf Hochtouren liefen. Die kubischen Formen der Villa entsprachen dem sachlichen Stil des Neuen Bauens, der damals in Mode war. Als das Domizil 1934 bezugsfertig war, ließ der Hausherr in seinem Studierzimmer einen außergewöhnlich langen Steinway-Konzertflügel aufstellen. Wohl aus Sehnsucht nach seinem russischen Landgut Iwanowka kümmerte er sich höchstpersönlich um die Anlage des Gartens. Zypressen, Lärchen, Silbertannen, Birken, Ahornbäume, Rosenhecken und Trauerweiden sollten das Areal in eine Idylle verwandeln.
Von der Villa aus genoss die Familie einen herrlichen Blick über den See. Einen fünf Meter hohen Felsen, der im Volksmund «Gibraltar» genannt wurde, ließ der neue Eigentümer abtragen. „Ich gehe durchs Haus und fühle mich wie ein Millionär – obwohl nicht jeder Millionär so ein Haus hat“, schrieb er stolz an den Maler Konstantin Somow, der ihn früher porträtiert hatte. Mit Ölheizung, Fahrstuhl und Flachdach war die Villa für damalige Verhältnisse hochmodern ausgestattet. Befreundete Musiker wie der Pianist Vladimir Horowitz, der Geiger Nathan Milstein und der Cellist Gregor Piatigorsky kamen öfters zu Besuch. Milstein erzählte später in einem Interview mit der „New York Times“, einmal habe er mit Piatigorsky Rachmaninows Stück „Vocalise“ gespielt, während der Hausherr schlief. Irgendwann sei dieser in einem gestreiften Pyjama aufgetaucht und habe sich wortlos ans Klavier gesetzt, um mit ihnen zu musizieren.

Minzlikör gegen Nervenflattern

In der neuen Residenz fand Rachmaninow endlich einen Weg aus seiner jahrelangen Schaffenskrise. Im Sommer 1934 komponierte er binnen weniger Wochen die „Rhapsodie über ein Thema von Paganini“ – 24 Variationen über ein Thema aus den Capricci für Solovioline, das bereits Brahms und Liszt zu eigenen Werken angeregt hatte. Noch im selben Jahr brachte er das Stück in Baltimore mit dem Philadelphia Orchestra unter Leopold Stokowski zur Uraufführung. Rachmaninow gab zu, dass der Solistenpart auch für ihn eine Herausforderung war. Seine Nerven soll er vor jeder Aufführung mit einem Glas Pfefferminzlikör zu beruhigen versucht haben. Die besonders schwierige 24. Variation ist deshalb auch als „Crème-de-Menthe-Variation“ in die Musikgeschichte eingegangen.
Im Juni 1935 begann er mit der Arbeit an seiner dritten und letzten Sinfonie, die er wegen zunehmender Erschöpfung erst im folgenden Jahr in Senar beenden konnte. Die zahlreichen Konzerttourneen zehrten an seiner Konstitution. Zu dem Zeitpunkt schien er bereits zu ahnen, dass seine Kräfte nicht mehr ausreichen würden, um alle Pläne in die Tat umzusetzen. Andere russische Emigranten, die diese melancholisch gefärbte Sinfonie hörten, wollen darin tiefe Sehnsucht nach der verlorenen Heimat erkannt haben. Für Rachmaninow war die Villa Senar nur ein Paradies auf Zeit. Als sich der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs abzeichnete, begab er sich im Sommer 1939 mit seiner Familie ein letztes Mal auf die Flucht. In den USA blieb er bis zu seinem Tod 1943. Er trat nie mehr in Europa auf, und die Villa Senar sah er nicht wieder.

Die Villa erwacht

Jahrzehntelang lag das Haus danach in einer Art Dornröschenschlaf, nur Wenigen war ein Besuch vergönnt. Erst als der Kanton Luzern das nahezu original erhaltene Anwesen vor einem Jahr von Rachmaninows Erben kaufte, konnte eine umfassende Sanierung und Öffnung in Angriff genommen werden. Die Fassade der denkmalgeschützten Villa zeigt sich inzwischen wieder in ihrem ursprünglichen Ockerton. Auch die Innenräume werden behutsam restauriert und mit moderner Technik ausgerüstet. Das historische Mobiliar und das Archiv befinden sich inzwischen ebenfalls im Besitz des Kantons.
Die Musikerin und Kulturunternehmerin Andrea Loetscher ist seit vergangenem Juni künstlerische Leiterin und Geschäftsführerin der Serge Rachmaninoff Foundation, die von dem 2012 verstorbenen Künstlerenkel Alexander Rachmaninoff Conus gegründet worden war. Aufgabe der Stiftung ist es, das Haus als spartenübergreifendes Kultur- und Bildungszentrum einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Auch in dem 20 000 Quadratmeter großen Park und in weiteren Gebäuden wie etwa einem Gärtnerhaus sind Veranstaltungen vorgesehen. „Wir werden Sergei Rachmaninow in seinem Jubiläumsjahr mittels neuer Formate und Konzerte in seinem Zuhause im Hier und Jetzt erlebbar machen“, kündigte Loetscher an.
Zu solchen Gelegenheiten wird auch der originale Steinway-Flügel des Künstlers gespielt. Ende Mai führt unter anderem der litauisch-russische Pianist Lukas Geniušas, auch bekannt als Kammermusikpartner der Sopranistin Asmik Grigorian, in der Villa Senar die ungekürzte Urfassung von Rachmaninows erster Klaviersonate auf. Die Stiftung arbeitet mit Partnern im In- und Ausland zusammen. Gemeinsam mit Decca Classics und dem US-Radiosender WFMT wird beispielsweise eine Serie mit 20 Podcasts zum Leben und Wirken des Jubilars präsentiert.

Weitere Infos:
Serge Rachmaninoff Foundation:
www.rachmaninoff.ch

Rachmaninow-Podcast (auf Englisch):
www.tinyurl.com/mr27cebt

Corina Kolbe, 01.04.2023, Online-Artikel



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