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N° 1354
20. - 30.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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(c) Needa Navaee

Saleem Ashkar

Ein Sonaten-Kosmos als Gesamterfahrung

Seit einem Jahrzehnt beschäftigt sich der Pianist mit Beethovens 32 Klaviersonaten. Nun hat er seine Gesamtaufnahme abgeschlossen.

Nach manchen Projektideen muss man nicht suchen. Sie springen einen einfach an. Auf die Frage, wie er auf den verwegenen Gedanken gekommen sei, sämtliche Beethoven-Sonaten aufzunehmen, antwortet Saleem Ashkar mit dem ungeschlagenen Argument, das den wahren Künstler seit jeher ausweist: „Ich musste es einfach tun.“ Anfang dieses Jahres nun hat der palästinensisch-israelische Pianist, Wahlberliner seit einigen Jahren, das mammutöse Projekt fürs Major-Label Decca abgeschlossenen. Im Januar erschienen auf dem sechsten und letzten Teil die noch ausstehenden fünf der insgesamt 32 Sonaten Ludwig van Beethovens – die nicht erst seit Hans von Bülows berühmtem Ausspruch als „Neues Testament der Klaviermusik“ gelten. Wie alle heiligen Schriften werden sie von den Pianisten mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht, was von Anbeginn der Schallplattengeschichte bis heute zu einer schier unüberschaubaren Diskografie geführt hat.

Beginnend bei ganz alten Kempen wie Artur Schnabel oder Wilhelm Kempff bis zur kürzlich erschienenen Gesamteinspielung Igor Levits hat fast jeder bedeutende Vertreter seines Fachs mindestens einmal seine Sichtweise auf die Beethoven-Sonaten zur Diskussion gestellt. Manche sogar mehrfach wie Alfred Brendel. „Es geht mir nicht darum, die ‚Wahrheit‘ über Beethoven zu präsentieren“, sagt Saleem Ashkar angesichts dieser beeindruckenden Ahnenreihe, „schließlich kann ich nicht behaupten, dass ich über sie verfügen würde. Das kann niemand. Aber diese Musik ist so unerschöpflich, dass man wohl nie aufhören wird, sich mit ihr zu beschäftigen.“ Am Anfang habe bei ihm der Wunsch gestanden, „zu erfahren, wie es sich anfühlt, diese Sonaten beim Spielen als einheitlichen Kosmos zu erfahren, als eine Art Metastück im Gegensatz zu seinen einzelnen Teilen.“ Freilich habe jede Sonate ihre eigene Charakteristik, ihre eigene Persönlichkeit. Doch die Gesamterfahrung sei schlichtweg überwältigend, sagt Saleem Ashkar, der seine pianistische Lebensaufgabe im ganz großen Repertoire sieht, mit Fixsternen wie Bach, Mozart, Beethoven oder Schumann in seinem Zentrum.
Ursprünglich sollte seine Gesamtaufnahme passend zu Beethovens 250. Geburtstag im Jahr 2020 vorliegen, doch Corona hat diesem Plan, wie so vielen, einen Strich durch die Rechnung gemacht. Während Saleem Ashkar selbst während der gesamten Pandemie vom Virus verschont blieb (erst hinterher suchte es ihn heim), fielen die meisten Bühnenauftritte ins Wasser – mit einschneidenden Folgen für sein Aufnahmeprojekt, das im Ganzen fast ein Jahrzehnt in Anspruch nahm. „Die Idee, Beethovens Sonaten zyklisch aufzuführen, hatte ich bereits 2014“, erzählt der Pianist, der seit dieser Zeit an unterschiedlichen Orten der Welt mit Gesamtaufführungen zu hören war. Das „Go“ für eine Einspielung bei Decca, wo zuvor schon Klavierkonzerte Mendelssohn Bartholdys und Beethovens mit ihm erschienen waren, kam nach seinem erfolgreichen Zyklus im Berliner Konzerthaus. Bereits 2017 lag die erste Folge mit fünf Sonaten vor. Zug um Zug erschienen in den darauffolgenden Jahren die nächsten Teile, bis das Projekt nach Veröffentlichung des vierten Albums im Februar 2020 ins Stocken geriet.

Unabhängig von den Beschränkungen des kulturellen Lebens hätte Ashkar zwar weiterhin im Tonstudio aufnehmen können. „Aber mir fehlte die Rückkopplung durch den Konzertsaal“, berichtet der Pianist, der entscheidende Impulse seines Musizierens durch die Interaktion mit dem Publikum aufnimmt. Da Aufnahme- und Konzerttätigkeit für den Pianisten in einer untrennbaren Beziehung zueinanderstehen, kam es zu einer Zwangspause. Ende 2021 ging es mit dem fünften Album weiter. Welche Kräfte muss man mobilisieren, um bei einer so vielfältigen musikalischen Karriere „nebenbei“ noch eine derartige Riesenaufgabe zu bewältigen? „Viele der Sonaten hatte ich vor den zyklischen Aufführungen noch nicht öffentlich gespielt, auch wenn ich sie, wie die ‚Hammerklaviersonate‘, zuvor schon einstudiert hatte. Einige aber habe ich für das Projekt überhaupt zum ersten Mal gespielt.“ Darunter mehrere der frühen Sonaten, die aufgrund ihrer kompositorischen Transparenz – bei gleichzeitig geforderter exorbitanter Virtuosität – schwieriger zu spielen sind als manche der „dankbarer“ gesetzten späten Sonaten.

„Was die Abfolge dieser Einspielung angeht, habe ich es ähnlich gehalten wie bei meinen zyklischen Aufführungen“, sagt Saleem Ashkar. Beethovens Sonaten erscheinen hier nicht in der chronologischen Reihe ihrer Entstehung, sind auch sonst nicht nach bestimmten Werkgruppen sortiert. „Es gibt jeweils bestimmte Sonaten, um die herum ich die anderen angeordnet habe. Dabei stehen berühmte neben weniger berühmten Stücken. Außerdem habe ich mich gefragt, was vom Charakter her zueinander passt, oder wie der Komponist von bestimmten Tonarten inspiriert wurde.“ Der letzte Teil rückt die „Hammerklaviersonate“ ins Zentrum, umrahmt von Sonaten aus der früheren und mittleren Schaffensperiode wie der gleichfalls groß angelegten, brillanten Es-Dur-Sonate op. 7 und der „Jagd-Sonate“ op. 31/III. Der Abschluss seiner Sonaten-Aufnahme bedeutet für Saleem Ashkar übrigens keine Pause im Beethoven-Geschäft. Auch in nächster Zeit wird er damit fleißig im Konzertsaal zu hören sein – während er sich gleichzeitig mit einem anderen Großprojekt beschäftigt. Dabei, verrät er vorab, wird er sich aber einem anderen Komponisten widmen: Robert Schumann.

Zuletzt erschienen:

Ludwig van Beethoven

Klaviersonaten Nr. 4, 9, 18, 25 & 29 „Hammerklavier“

Saleem Ashkar

Decca/Universal

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Stephan Schwarz-Peters, 22.04.2023, Online-Artikel



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