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N° 1354
20. - 29.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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(c) Uwe Arens

Zlata Chochieva

Zwischen Idylle und Bedrohung

Auf dem neuen Album der russischen Pianistin mit Werken von Schumann bis Bartók dreht sich alles um die Natur.

Auf den bisherigen Alben von Zlata Chochieva standen zumeist einzelne Komponisten und deren Werke im Vordergrund. So veröffentlichte sie 2012 ein poetisches Rachmaninow-Album und 2014 eine ebenso virtuose wie klangsinnliche Einspielung von Frédéric Chopins Etüden. Nun hat sie ein echtes Konzept-Album aufgenommen, mit dem Titel „Im Freien“ und erwartungsgemäß dreht es sich um Stücke, die mit der Natur zu tun haben. „Die Idee dafür entstand während der Pandemie“, erklärt die Pianistin, „weil ich so frustriert war, dass ich keine Konzerte hatte, nicht reisen und auch meine Familie nicht mehr sehen konnte. Ich fühlte mich ziemlich einsam, und war auf der Suche nach einer Inspirationsquelle. Da habe ich verstanden, dass mir die Natur am meisten Kraft gibt. Sie ist meine größte Inspirationsquelle und hat Antworten auf viele meiner Fragen.“
In jener Zeit begann sie, Maurice Ravels Klavierzyklus „Miroirs“ zu lernen und erkannte, dass dieser etwas ganz Besonderes ist. Ravel bezieht sich darin auf ein Zitat von Shakespeare: „Das Auge sieht sich nicht, Als nur im Widerschein, durch andre Dinge“. Ohne einen Blick von außen könne man nicht zu einem adäquaten Verständnis von sich selbst gelangen. Deshalb braucht man einen Spiegel, und dieser Spiegel ist die Natur. „Das ist ein wunderschöner Gedanke“, so Chochieva. Das Album enthält hauptsächlich Werke von Schumann und Ravel, zwei Komponisten, die aus ganz unterschiedlichen Epochen stammen und dadurch auch grundverschiedene Wahrnehmungen der Natur widerspiegeln. Schumann betonte insbesondere die Einheit zwischen der Natur und dem Menschen, während Ravel die Natur eher als Objekt beschrieb; dennoch sind auch Ravels Darstellungen der Natur sehr poetisch.
Manch einer mag sich wundern, dass die russische Pianistin Schumanns „Waldszenen“ für das Programm ausgesucht hat, gelten diese Werke doch gemeinhin eher als Musik für Amateure. Bis auf den siebten Satz „Der Vogel als Prophet“, der seit Jahrzehnten ein beliebtes Zugabenstück bildet, erklingen die „Waldszenen“ auch nur selten im Konzertsaal. Chochieva erklärt, dass die wenigen Noten in dem Zyklus die größte Herausforderung darstellen, da man sich nicht hinter Effekten verstecken kann. Alles ist hörbar und der kleinste Fehler kann das ganze Bild beschädigen. Sie hat die „Waldszenen“ bewusst an den Anfang des Programms gestellt, da das erste Stück, „Eintritt“, den perfekten Einstieg ins Programm darstellt. Sie findet den Zyklus vor allem deshalb interessant, weil die Natur darin nicht nur positiv dargestellt wird. „Die Natur ist nicht immer schön“, betont Chochieva, „sie ruft auch nicht immer positive Gefühle hervor, sondern kann auch sehr beängstigend sein.“

Allein unter Irrlichtern

Zum Beispiel, wenn man in einem einsamen Wald in einen Schneesturm gerät. Diese Stimmung hat Franz Liszt in seiner letzten „Transzendentalen Etüde“ „Chasse-neige“ auf höchst eindrucksvolle Weise nachempfunden. Das dichte Schneegestöber wird durch dichte Tremoli in der hohen Lage dargestellt, während chromatische Bassläufe den bedrohlichen Sturm nachzeichnen. Um die mystische Seite der Natur dreht sich eine weitere von Liszts „Transzendentalen Etüden“, die Chochieva mit ins Programm aufnahm: Die Nr. 6 „Feux follets“, ein faszinierendes Stück von enormer pianistischer Schwierigkeit, welches das Phänomen der „Irrlichter“ musikalisch ausdeutet. Neben diesen beiden höchst anspruchsvollen Etüden findet sich ein weiteres Virtuosenstück auf dem Album: Adolf Schulz-Evlers „Arabesken über ,An der schönen blauen Donau‘ von Johann Strauss“. Schulz-Evler war ein polnischer Pianist und Komponist, der beim berühmten Opernkomponisten Stanisław Moniuszko Komposition und beim Liszt-Schüler Carl Tausig Klavier studierte und im ukrainischen Charkiw als Klavierprofessor lehrte. Von seinen etwa 50 Klavierstücken und Liedern sind heute alle vergessen – bis auf die „Arabesken“. „Sie sind ein wunderschönes Stück. Und es ist toll, als Pianistin etwas von Strauss spielen zu können. Seine Musik klingt ohne den großen Orchesterklang ganz anders, aber auch sehr reizvoll.“
Neben all diesen bekannten Werken hatte Zlata Chochieva die Idee, ihre Hörer auch mit etwas Neuem bekannt zu machen. Dafür wählte sie die Klaviersuite des deutschen Spätromantikers Felix Draeseke: „Er war eine der wichtigsten Entdeckungen für mich in letzter Zeit“, erzählt sie. „Draeseke ist ein Komponist der neudeutschen Schule, der von vielen sehr geschätzt wird. Manche halten seine Klaviersonate für eine der besten Sonaten, die je geschrieben wurden. Ich habe von ihm die kleine Suite „Petit histoire“ für das Album ausgesucht. Die handelt zwar nicht von der Natur, sondern eher von unglücklicher Liebe. Aber sie ist auf jeden Fall gut für die Idee des Albums, weil es darin einen Traum vom Glück gibt und auch eine Ungewissheit.“ Beides sind Aspekte, die in der romantischen Beschreibung der Natur eine große Rolle spielen.
Das Album schließt mit einem Satz aus dem Zyklus, den Zlata Chochieva als Namengeber für das Album verwendete: „Im Freien“ von Béla Bartók. In dem fünfsätzigen Werk erklingen Tierstimmen ebenso wie bäuerliche Tänze und ein venezianisches Gondellied, es endet mit einer Hetzjagd. Bartók liebte es, sich beim Spazierengehen von der Natur inspirieren zu lassen. So erzählt sein Sohn: „Er verehrte die Natur in allen ihren Erscheinungen. Spaziergänge und Ausflüge gehörten zu seiner Lebensordnung, und am Ende jedes Semesters verbrachte er einen Monat im Hochgebirge.“ Chochieva wählte aus dem Zyklus den vierten Satz „Klänge der Nacht“, in dem Tierstimmen zu hören sind: „Dies war für mich immer eines der geheimnisvollsten und faszinierendsten Stücke. Ich finde es so schön, wie Bartók die Natur zeigt, scheinbar schlafend, doch in Wirklichkeit höchst lebendig.“

Neu erschienen:

Robert Schumann, Maurice Ravel, Felix Draeseke, Béla Bartók

„Im Freien“

Zlata Chochieva

Naïve/375 Media

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Mario-Felix Vogt, 20.05.2023, RONDO Ausgabe 3 / 2023



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