home

N° 1354
20. - 29.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



Startseite · Interview · Gefragt

L’arte del mondo & Pera Ensemble

»Die Türken sind eigentlich sehr barock«

Wenn sich eine Alte-Musik-Formation aus Deutschland und ein türkisches Ensemble zusammenfinden, um eine Händel-Oper auch aus orientalischer Sicht neu zu beleuchten, darf man Ungewöhnliches erwarten. Über die Hintergründe dieser aufregenden Symbiose sprach Carsten Niemann mit den Ensembleleitern Werner Ehrhardt und Mehmet Cemal Yeşilçay.

Ja, es sei ein Kulturschock gewesen, mit 9 Jahren aus Istanbul in ein kleines bayerisches Dorf zu ziehen, sagt Mehmet Cemal Yeşilçay. Wobei dieser Kulturschock für die Deutschen allerdings größer gewesen sei als für ihn selbst: Er habe in Istanbul bereits christliche Freunde gehabt. Die Bewohner des kleinen Dörfchens bei Hechenheim mussten sich dagegen erst an den Fremden gewöhnen: »Ich war wahrscheinlich der erste Türke an meiner Schule« fasst Yeşilçay das Drama zusammen. Dass er in seiner neuen Umgebung dennoch tiefe Wurzeln geschlagen hat, verrät schon allein seine Sprache, in der man neben dem türkischen Einschlag auch eine ebenso authentische bayerische Färbung heraushören kann. Kein Wunder also, dass sich auch der Musiker Yeşilçay nicht mit den scheinbar zementierten Grenzen zwischen westlichen und orientalischen musikalischen Idiomen abfinden mag. Partner findet der Komponist und Virtuose auf der arabischen Laute Ud in den verschiedensten Bereichen: im Hip-Hop ebenso wie im Film – und vor allem in der Alten Musik.
Nach einer Reihe erfolgreicher Projekte als Leiter des Ensembles Sarband gründete Yeşilçay das auf türkischen Instrumenten spielende Pera Ensemble und machte sich sowohl auf die Suche nach musikalischen Dialogpartnern als auch nach Vorbildern in der Geschichte. Schon im Barock-Zeitalter, das im Türkischen wegen der Vorliebe der Sultane für exotische Pflanzen »Tulpenzeit« heiße, sei es schließlich zu ersten vorsichtigen Annäherungen zwischen den Musikern verschiedener Gesandtschaften gekommen. Diese historische Situation war es, aus der er mit Werner Ehrhardt, dem Spiritus rector des Barockensembles L’arte del mondo und langjährigem Leiter des legendären Concerto Köln, nach neuen, zukunftsweisenden Möglichkeiten des musikalischen Austauschs zu suchen begann. Produkt ihrer Zusammenarbeit ist »Armida«: ein konzertantes Pasticcio aus Opern von Händel, gespielt und gesungen von orientalischen und westlichen Musikern, in dem die Geschichte der Liebe zwischen dem Kreuzritter Rinaldo und der Sarazenin Armida auf assoziative Weise neu erzählt wird.
Dabei gehe es nicht darum, die unterschiedlichen Stile zu einem Multikultibrei zu vermischen, erklärt Werner Ehrhardt: »Wir haben versucht herauszufinden, wie man etwas miteinander machen kann, so dass man das Gefühl hat: Das klingt ganz logisch, es muss so sein.« Genauso selbstverständlich müsse man die beiden Stile aber auch nebeneinander in ihrer jeweiligen eigenen Logik und Schönheit wahrnehmen dürfen: »Und dann darf es auch wieder auseinandergehen und bleibt für sich stehen.«
Ohne Kulturschocks bei den türkischen und deutschen Zuhörern geht das freilich nicht ab – und soll es auch gar nicht: Genüsslich beschreibt Ye¸si lçay, wie sich bei den Aufführungen der »Armida« Deutsche und Türken im Publikum verstohlen begutachten und gestandene türkische Männer vor dem Temperament einer Simone Kermes erst einmal eingeschüchtert in ihren Sesseln versinken. »Aber in der zweiten Hälfte des Konzerts«, sagt Yeşilçay, »da fangen plötzlich alle an, bei den selben Stücken zu klatschen! «
Der größte Verbindungsfaktor, so glaubt Yeşilçay, ist die Musik von Händel selbst – und insbesondere die Melodik seiner Largos: »Die Türken sind eigentlich sehr barock: Dieses schwülstige, große Empfinden, das haben wir immer noch«, sinniert er. Werner Ehrhardt wiederum fasziniert besonders die Improvisationskunst und die im Spirituellen wurzelnde Gelassenheit der orientalischen Kollegen: »Wir haben gemerkt, dass wir sehr kritisch im Umgang sind: Wir sehen etwas – und beurteilen es gleich nach unseren Kriterien. Die türkischen Kollegen dagegen«, fährt Ehrhardt fort und reibt dabei die Fingerspitzen, »sind eher sehr gute Beobachter, die erst einmal die Atmosphäre wahrnehmen.« Ehrhardt und seine Musiker erlebten dabei hautnah eine Haltung, auf die sich die westliche Musikpädagogik erst in letzter Zeit wieder besinnt: »Ich muss nicht etwas ›machen‹, denn das gibt es schon in mir: Diese Musik kommt zu mir, und ich muss es nur noch herausfließen lassen.«

Amor Oriental – Händel alla turca

Pera Ensemble, L'arte del mondo

Sony

Als JPC- und Amazon-Partner verdienen wir an qualifizierten Verkäufen.

Carsten Niemann, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 2 / 2011



Kommentare

Kommentar posten

Für diesen Artikel gibt es noch keine Kommentare.


Das könnte Sie auch interessieren

Pasticcio

Semperopern-Glücksfall

Als sich Christian Thielemann gerade der internationalen Presse per Livestream zeigte, um das […]
zum Artikel

Volt & Vinyl

Volt & Vinyl

Philip Glass

Mit seinen Rhythmusschleifen, Motiv-Repetitionen und -Rotationen hat sich der Amerikaner Philip […]
zum Artikel

Kronjuwelen

Magazin

Schätze für den Plattenschrank

„Ich möchte weder nur ein Komponist, nur ein Dirigent oder nur ein Pianist sein. Ich bin stolz […]
zum Artikel


Abo

Top