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N° 1353
13. - 21.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Semperoper: (c) Matthias Creutzinger

Hörtest

Richard Strauss „Elektra“

Bei Richard Strauss’ „Elektra“ ist es fast so wie bei guten Wagner-Aufnahmen: je älter der Jahrgang, desto besser.

Strauss’ blutrünstigste, lauteste und – fast – kürzeste Oper war viele Jahrzehnte ein beliebtes Bravourstück großer Dirigenten. Fantastische Aufführungen der „Elektra“ waren so selbstverständlich, dass der Dirigent Hans Knappertsbusch einst gefragt wurde, ob er an einem Abend nacheinander „Salome“ und „Elektra“ dirigieren könne. Er lehnte mit den lakonischen Worten ab: „Nur, wenn danach gleich noch die ‚Meistersinger’ kommen.“ Knappertsbusch wusste, dass man die Schwierigkeiten von „Elektra“ unterschätzt.
Wie schlecht es heute um dieses Werk steht, musste der späte Karajan erfahren, als er ihm – es war einer seiner letzten Schallplattenpläne – eine Studio-Produktion widmen wollte. Hildegard Behrens hatte für Elektra zugesagt. Die vorgesehene Sängerin der Chrysothemis indes, Anna Tomowa-Sintow, fand die Rolle für sich zu schwer. Sie sagte ab. Und besiegelte so gewissermaßen die Schallplattengeschichte der „Elektra“. Denn heute erscheinen die diskografischen Akten des Werkes mehr oder weniger geschlossen.

Elektra, eine Killer-Partie

Natürlich wegen der Titelpartie. Wohl und Weh’ jeder „Elektra“-Gesamtaufnahme hängt von der Durchschlagskraft, vom Gesangs- und Stehvermögen der Titel-Heldin ab: Elektra, eine Killer-Partie. So urteilte Christian Thielemann (am Rande unseres Interviews in dieser Ausgabe) auf die Frage, welches seiner Meinung nach die beste Gesamtaufnahme der „Elektra“ sei, konsequent nach Maßgabe der Hauptdarstellerin: „Wohl diejenige mit Birgit Nilsson.“
Gemeint ist die Studioaufnahme mit den Wiener Philharmonikern, mit der Georg Solti 1966 ein – wenn auch einseitiges – Meisterstück gelang. Bissig, brachial und ohne jeden Anflug von Betulichkeit, geht diese Aufnahme direkt zum Angriff über. Die Wonnen des Fortissimo schlagen in Gestalt der Wiener Philharmoniker süffig und scharf über den Protagonisten zusammen. Diese machen trotzdem bella figura, denn es handelt sich neben Birgit Nilsson immerhin um die grandiose Regina Resnik und die zwar etwas blassere, aber auch lyrischere (angeblich aus optischen Gründen engagierte) Marie Collier.
Solti festigte mit seiner geradlinigen und aggressiven Deutung den Ruf des Werkes als Sturmgeschütz. Eine Sichtweise, die nur bedingt richtig ist. Denn die Rache-Geschichte Hugo von Hofmannsthals, die als Schauspiel schon ein Erfolg war, bevor Strauss an die Vertonung heranging, ist kein so negativer, bluttriefender Stoff wie man denkt. Gemäß den Gesetzen der antiken Tragödie findet der Mord Elektras an ihrer Mutter durchaus nicht auf offener Bühne statt. Sondern dahinter. (Bei Solti hört man die ihr Leben ausröchelnde Regina Resnik, dass einem der Atem stockt.) Der Rachevorsatz, den Elektra mithilfe des zurückgekehrten Orest ausführen lässt, geht im Grunde genommen gut aus. („Die Bösen kriegen ihr Fett weg“, so Thielemann.)

Feinsinn contra Fortissimo

Feinsinnigere, auch lässigere und Wienerische Qualitäten der Partitur traf 1960 Karl Böhm. Mit der ingeniösen Inge Borkh, einmal mehr in der Rolle ihres Lebens, stand ihm eine glühend engagierte, spitzig intensive und fast mädchenhafte Atridentochter zur Verfügung. Inge Borkh sang damals diese Rolle, auf die sie sich spezialisiert hatte, in unzähligen Produktionen und – wie sie belustigt erzählte – in immer demselben Kleid (es war, damaligen Bühnen-Bräuchen folgend, ihr eigenes und wurde von ihr für jede Vorstellung mitgebracht). Eine Besonderheit der Aufnahme besteht in Dietrich Fischer-Dieskau als logisch kalkulierendem Orest. Böhms Autorität als ausgefuchster Straussianer erweist sich in seiner Fähigkeit, Zwischentöne und Pastellfarben zu entdecken, die sonst meist geopfert werden. Dafür war die Staatskapelle Dresden, mit der das Werk 1909 uraufgeführt wurde, die denkbar beste Basis. Die beste Aufnahme einer Strauss-Oper durch dieses Orchester.
Spätere Studio-Annäherungen reichten an diese Großtaten der frühen Stereo-Ära nicht heran. Das gilt für Daniel Barenboims luxuriöses Set mit der Berliner Staatskapelle von 1995, welches unter der unsteten, stimmlich ausladenden Deborah Polaski in der Titelrolle leidet (eine wunderbare Sängerin, deren große Stimme im Studio nie optimal abgebildet werden konnte). Waltraud Meier präsentiert sich als vollmundig attraktive Klytämnestra auf der Höhe ihres Könnens.

Von nun an geht’s bergab

Und auch Alessandra Marc macht als Chrysothemis unter Barenboim weit bessere Figur als im selben Jahr 1995 bei den Wiener Philharmonikern unter Giuseppe Sinopoli. Sinopoli ging Strauss’ Partituren vermutlich grundsätzlich zu differenzialdiagnostisch an. Zu sehr im Sinne Mahlers. Alessandra Marc in der Titelrolle fehlt es an Eloquenz, Deborah Voigt als Chrysothemis an textlicher Präsenz. Einzig wegen Hanna Schwarz als geifernder Klytämnestra kommt dieser Aufnahme ein Sammlerwert zu. Ähnliches gilt für Seiji Ozawas ältere Darstellung mit dem Boston Symphony Orchestra (1988, eine der wenigen Opern-Aufnahmen dieses Orchesters). In Gestalt von Hildegard Behrens jagt er eine leicht hysterisch über ihre Mittel hinaussingende Elektra ins Breitwand- Getümmel . Christa Ludwig konnte hier als Klytämnestra immerhin die letzte große Opern-Partie ihrer Karriere dokumentieren.
Weiter bergab ging es in den folgenden Jahren. Unter Valery Gergiev sind weder Jeanne-Michèle Charbonnet noch Angela Denoke der Rosskur gewachsen, der sie hier unterzogen werden. Felicity Palmer als Klytämnestra reicht (auch ihrer eigenen Einschätzung nach) an die Aufnahme unter dem gleichfalls gewalttätigen Semyon Bychkov nicht heran (2004, wiederum mit Deborah Polaski).
Eine positive Ausnahme mag die Produktion von 1989 mit Eva Marton, Cheryl Studer und Marjana Lipovsek bilden, schon deshalb, weil sie unter Leitung von Wolfgang Sawallisch einen Meister der Besonnenheit am Pult zeigt. Sawallisch trumpft mit dem kompakten Klang des BR-Orchesters effektvoll auf, vermag aber als der zyklisch denkende Strauss- Kapellmeister, der er war, eine energetische Geschlossenheit zu suggerieren, die beeindruckt.
Unter den DVDs verdient vor allem der Wiener Mitschnitt unter Claudio Abbado Aufmerksamkeit: wegen der hinreißenden Plastizität Brigitte Fassbaenders als Klytämnestra, ebenfalls von 1989. Christoph von Dohnányis straighter Zugang 2005 in Zürich überzeugt durch die Regie von Martin Kušej (weniger durch Eva Johannson). In Christian Thielemanns Baden- Badener Produktion mit der wabernden Linda Watson von 2010 begegnet man der streng-klassischen Inszenierung von Herbert Wernicke. Auch bei den DVDs lohnt es sich, auf ältere Jahrgänge auszuweichen. Nicht gerade zu Götz Friedrich und dem steinalten Karl Böhm von 1981 (mit Leonie Rysanek, Astrid Varnay und Catarina Ligendza). Wohl aber zur 1980 aufgezeichneten Met-Ausgrabung mit Birgit Nilsson und Leonie Rysanek (hier als Klytämnestra); die Leitung hat James Levine.
Noch uferloser ist die Situation bei den historischen Live-Mitschnitten. Wirklich wichtig sind nur drei. Erstens die 1947 in London entstandene Aufnahme unter dem sanguinisch zudrückenden Thomas Beecham – mit Erna Schlüter, Elisabeth Höngen als Klytämnestra und einer nicht minder großartigen Ljuba Welitsch als Chrysothemis. Ein Dirigent, der wenig ins Studio ging, war zudem der beherzte Dmitri Mitropoulos; hinreißend 1950 mit Anny Konetzni und Martha Mödl. Oder 1957 in Salzburg mit einem schier unschlagbaren Quintett, bestehend aus Inge Borkh, Lisa della Casa, Jean Madeira, Kurt Böhme und Max Lorenz.
Wenn man schließlich an dem einzigen Dokument Herbert von Karajans mit dieser Oper nicht vorbei gehen kann (Live in Salzburg 1964), so liegt dies an der Fülle süffiger Lyrismen, am Wienerischen Schwung Karajans, durch den man plötzlich frappiert vor der „Rosenkavalier“-Nähe des Werkes steht. Selbst wehrhafte Sänger wie Astrid Varnay, Hildegard Hillebrecht und Martha Mödl integriert Karajan in einen beinahe pastoralen Ansatz antiker Helligkeit und Klarheit. Man hört das Werk mit anderen Ohren. Kocht man all diese Ergebnisse herunter, so kommt man zum vereinfachenden Schluss: entweder Solti und Böhm. Oder Karajan live 1964.

Solti, Wiener Philharmoniker, Nilsson, Resnik, Collier (1966)

Decca

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Böhm, Staatskapelle Dresden, Borkh, Madeira, Schech (1960)

Deutsche Grammophon

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Karajan, Wiener Philharmoniker, Varnay, Mödl, Hillebrecht (1964)

Orfeo

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Heimspiel:

Sawallisch, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Marton, Lipovsek, Studer (1989)

EMI

Mitropoulos, Wiener Philharmoniker, Borkh, Madeira, della Casa (1957)

Orfeo

Abbado, Orchester der Wiener Staatsoper, Marton, Fassbaender, Studer (1989)

Arthaus

Barenboim, Staatskapelle Berlin, Polaski, Meier, Marc (1995)

Für Mutter:

Gergiev, London Symphony Orchestra, Charbonnet, Palmer, Denoke (2010)

Bychkov, WDR Sinfonieorchester, Polaski, Palmer, Schwanewilms (2004)

Profil

Sinopoli, Wiener Philharmoniker, Marc, Schwarz, Voigt (1995)

Brilliant

Robert Fraunholzer, 07.12.2013, RONDO Ausgabe 6 / 2013



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