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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



Startseite · Interview · Blind gehört

(c) Fran Kaufman

Blind gehört

Marc-André Hamelin

„Und Sie dachten schon, Sie hätten mich“

„Schade, dass Sie nur so wenige CDs mitgebracht haben, das macht Spaß!“, sagt Marc-André Hamelin, als ich nach einer Stunde die siebte CD in den Player schiebe. Der in New York lebende Kanadier ist nicht nur ein Virtuose mit enorm breitem Repertoire, schier unermüdlicher Neugier und enormer Produktivität im Aufnahmestudio. Er verfügt auch über ein ungewöhnliches Gedächtnis - und ist zudem noch ein angenehmer, entspannter Gesprächspartner.

Sehr gut, sehr elegant. Wenn ich etwas vermisse, ist es ein wenig Verspieltheit. Ich sehe das Stück etwas leichter, tänzerischer. Aber diese Sichtweise ist absolut gültig. Ich weiß nur von zwei Aufnahmen, von Ax und Andsnes. Ist es eine von beiden? Beide sind Freunde, wunderbare Menschen. Haydn zu spielen macht so viel Spaß, da gibt es so viel zu entdecken. Ich wünschte, er hätte noch viel mehr Klaviersonaten geschrieben ... Ich habe die Möglichkeit, viele CDs aufzunehmen. Warum sollte ich das nicht nutzen? Ich liebe es, aufzunehmen. Der wichtigste Grund ist: dass ich Aufmerksamkeit wecken kann für unbekanntes Repertoire bzw. die Chance bieten kann, bekannte Stücke auf eine frische Weise zu hören. Zu Haydn und Mozart habe ich nicht unbedingt etwas anderes zu sagen, aber vielleicht ist die Essenz ja noch gar nicht gesagt worden. (lacht) Ich höre keine Aufnahmen, bevor ich ein Werk studiere, ich möchte mich keinen Einflüssen aussetzen. Meine Referenz ist die Partitur – und der Komponist. Deshalb sage ich: Komponist zu sein ist ein Riesenvorteil. Ich kann mich mehr in die Schöpfer der Stücke hineinversetzen, die ich interpretiere, in ihre Arbeitsweise und wie sie ihre Inspiration aufs Papier gebracht haben. Das hilft, bessere Entscheidungen zu treffen, und gibt einem in gewissem Sinne mehr Freiheit. Das Schwierigste am Komponieren ist das Notieren der Ideen, so dass die Intentionen sich weitestgehend vermitteln. Das geht mit unserem inadäquaten Notationssystem eigentlich nicht. Hinzu kommt: Nicht alle Entscheidungen sind endgültig. Nehmen Sie Rachmaninows Klavierkonzerte 2 und 3, die er viele Jahre nach dem Komponieren aufgenommen hat. Was er da spielt, ist zum Teil sehr verschieden von dem, was er geschrieben hat, vor allem in den Tempi. Er hatte die Stücke in der Zwischenzeit häufig gespielt und wusste besser, was er sagen wollte. Andererseits ist der Enthusiasmus des Komponierens verflogen, sodass die Interpretation vielleicht stromlinienförmiger wird. Das ist ein Feld für endlose Spekulation – und das ist wunderbar! Deshalb haben wir so viele Aufnahmen, und die sind in gewisser Weise alle gültig.

Joseph Haydn

Klavierkonzert F-Dur Hob. XVIII:3

Emanuel Ax, Franz Liszt Chamber Orchestra

Sony

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(nach einer halben Minute) Ach natürlich, die Lipatti-Sonate. Hier an den Volkslied- Elementen habe ich’s erkannt. Ich habe so lange gebraucht, weil ich am Anfang das Metrum nicht gehört habe, das ist eher ein Tonrausch als ein klarer 6/8-Takt, als der es notiert ist. Aber es ist sehr gut gespielt. Oh, die CD hab ich sogar, weil da Godowsky drauf ist. Ich habe die Noten und habe die Einspielung von Lipatti gehört, aber ich habe das Stück nie gespielt. – Wie entscheiden Sie, ob Sie ein Stück spielen? – Es muss mir gefallen. Aber noch wichtiger ist die Frage, ob es die Chance hat, ins Repertoire zu kommen oder zumindest das Publikum zu bewegen. Ich spiele nicht für mich, sondern für’s Publikum. Mit dem möchte ich meinen Enthusiasmus, meine Entdeckungen teilen. Ich nehme keine Stücke nur aus historischem Interesse auf, damit sie einmal aufgenommen sind. Mir geht es darum, Stücke zum Leben zu erwecken, die das Potenzial haben, von Musikliebhabern geschätzt zu werden. – Wie finden Sie die Stücke? – Leute schicken mir Noten, Freunde empfehlen mir Stücke, und manchmal höre ich etwas und denke, das wäre interessant zu spielen. Ich habe haufenweise Noten. Als ich vor kurzem umgezogen bin, brauchte ich 83 Kartons für meine Noten. Ich habe eine Festplatte bei mir mit 40.000 Stücken drauf. Zu manchem werde ich nicht mehr kommen. Boulez‘ zweite Sonate z.B. schätze ich sehr, aber es würde mich zu viel Zeit kosten, bis ich es so spielen könnte, dass es mich wirklich befriedigt. – Gibt es denn etwas, das Ihnen technisch zu viel Arbeit machen würde? – Sicherlich, aber der technische Teil interessiert mich nicht. Der musikalische Wert zählt. Ich bin nicht mehr in dem Alter, dass ich ein Akrobat sein will.

Dinu Lipatti

Sonatina für die linke Hand

Antoine Rebstein

Claves/Klassik Center Kassel

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Vierhändig. Nein? Dann muss es ein Pedalklavier sein. Alkan? Das habe ich nie gehört. Ich wusste gar nicht, dass es eine Aufnahme mit Pedalklavier gibt. Das hat so eine gewisse mechanische Einfältigkeit. Das ist ein altes Instrument, oder? Das Alkan selbst gespielt hat? Lustig! Die CD muss ich mir besorgen. Ich würde nicht sagen, dass Alkan einer meiner Lieblingskomponisten ist. Aber er ist ein wichtiger Komponist, der übersehen wurde, besser als so mancher bekanntere Zeitgenosse.

Charles Valentin Alkan

Prélude b-Moll op. 66/10

Olivier Latry, auf einem Pedalklavier

naïve/Indigo

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Eines der perfektesten Klavierstücke, die je geschrieben wurden. Das ist eine Freude vom Anfang bis zum Ende. Schön! Die Aufnahme gefällt mir, die hat die ganze Lebendigkeit und Sanglichkeit, die Mozart verlangt. Und der Solist spielt wirklich in Harmonie mit dem Orchester. Christian Zacharias? Das überrascht mich nicht, den schätze ich sehr, ich würde gern mal mit ihm zusammenarbeiten. – Dirigieren Sie selbst? – Nie! Zum einen müsste ich das lernen. Zum anderen mag ich die Partnerschaft mit einem Dirigenten. Ich habe bislang keine schlechten Erfahrungen gemacht. Ich vertraue einfach darauf, dass der Dirigent die Partitur und die Möglichkeiten des Orchesters besser kennt als ich.

Wolfgang Amadeus Mozart

Klavierkonzert G-Dur KV 453

Christian Zacharias,Orchestre de Chambre Lausanne

MDG/Naxos

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(nach 20 Sekunden) Hanns Eisler? Die erste Sonate. (lacht) Jetzt dachten Sie, Sie hätten mich! Zuerst hatte ich Schönberg vermutet. Ich werde Ihnen verraten, wie ich das erkannt habe: Ich kenne das Stück nicht, ich habe es nie gehört. Aber ich habe mir mal die erste Seite der Noten angeschaut. – Haben Sie ein fotografisches Gedächtnis? – Nein. Wenn ich spiele, kann ich die Noten zu einem gewissen Grad vor mir sehen. Das hilft. Aber mein Gedächtnis braucht seine Zeit, ich muss an etwas arbeiten, verlasse das Klavier für eine halbe Stunde, komme zurück und muss von vorn anfangen. Aber jedes Mal erinnere ich etwas mehr. Nach zwei, drei Tagen bleibt es, weil ich dann anfange, dauernd darüber nachzudenken. Und wenn ich ein Stück höre und es mir merken will, visualisiere ich es mit Noten. Später erinnere ich mich an die Noten und dann auch an die Musik. – Vergessen Sie jemals etwas? – Natürlich. Mein Gedächtnis tut mir gute Dienste, aber es ist nicht unfehlbar. Morgen spiele ich im Konzert ein Stück von mir, und ich spiele es aus den Noten. Weil es zu neu ist. – Sie spielen oft Bergs Sonate. Würde Sie Eisler auch reizen? – Vielleicht. Ich habe einige Lieder von ihm begleitet und die dritte Sonate kenne ich von einer Aufnahme von Frederic Rzewski. Kennen Sie den? Das ist ein amerikanischer Komponist, sein Hauptwerk sind die Variationen über „The People United Will Never Be Defeated“, das sind die Goldberg-Variationen des 20. Jahrhunderts. Seine Karriere hat er als Pianist angefangen, seine Aufnahme von Stockhausens Klavierstück Nr. 10 auf Wergo ist eine der erstaunlichsten Aufführungen von Klaviermusik im 20. Jahrhundert. – Sehen Sie sich eigentlich als Pianisten, der auch komponiert, oder ist Ihnen beides gleich wichtig? – Ich bin vor allem Pianist. Ich komponiere aus einer inneren Notwendigkeit heraus, das ist ein anderer Weg, mich auszudrücken. Wenn ich eine Idee habe, die genug Potenzial hat, entwickelt zu werden, warum sollte ich das nicht versuchen? Es funktioniert nicht immer. Aber wenn ich etwas hinterlassen kann, das gültig ist, dann ist es den Einsatz wert. Und ich bin sehr glücklich, dass ich inzwischen sogar einen Verleger habe.

Hanns Eisler

Klaviersonate op. 1

Matthias Goerne, Thomas Larcher, Ensemble Resonanz

harmonia mundi

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Neu erschienen:

Ferruccio Busoni

Die späten Klavierwerke

Marc-André Hamelin

Hyperion/Note 1

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Arnt Cobbers, 01.03.2014, RONDO Ausgabe 1 / 2014



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