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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Hamburger Archiv für Gesangskunst

Sumpfblüten der Operette

Im Hamburger Archiv für Gesangskunst schlummern Operetten-Trouvaillen, bei denen der Laie staunt und selbst der Fachmann sich wundert. Verantwortlich für diese Blütenlese vergangener Aufnahme-Herrlichkeit ist Joachim Leufgen, ein ehemaliger Teldec-Manager, der aus der CD-Krise eine Tugend machte – und der sich in der pittoresken Produktnische mittlerweile ganz komfortabel eingerichtet hat.

Kennen Sie »Sissi«, die Operette von Fritz Kreisler? Oder den »Göttergatten« von Franz Lehár? »Prinz Methusalem« von Johann Strauß oder die »Dollarprinzessin« von Leo Fall? Dass in der unmittelbaren Nachkriegszeit etliche Rundfunkanstalten Gesamtaufnahmen dieser und dutzender anderer Operetten-Schmankerln produzierten und archivierten, wissen selbst Freunde der Operette kaum mehr. Doch es ist so. Wer an die Nachkriegsoperette denkt, dem schießen vor allem Anneliese Rothenberger und Rudolf Schock, die Fernsehstars der Styropor-Operette, durch den Kopf. Dabei wurde vorher, unter Leitung eleganter Fachkräfte wie Max Schönherr, Franz Marszalek und Wilhelm Stephan, ein Großteil des Operetten-Erbes sogar der Kleinmeister (wie Oscar Straus, Bruno Granichstaedten und Walter Goetze) mit erstklassigen Sängern noch einmal erschlossen. Die unbekannteren Werke der Großen wie Offenbach (»Salon Pitzelberger«), Kálmán (»Die Bajadere«), und Künneke (»Hochzeit in Samarkand«) sowieso.
Seit Kurzem wird die ganze Operetten-Titanic wieder in CD-Form ans Licht gehoben: handgefertigt und limitiert beim »Hamburger Archiv für Gesangskunst«. Wer’s mitbekommt, staunt über den ehemaligen Reichtum einer inzwischen vollends abgerissenen Operetten-Herrlichkeit. Da trällert Emmy Loose durch Millöckers »Verwunschenes Schloss« und Heubergers »Opernball«. Esther Réthy gibt Kálmáns »Arizona Lady«, und Mathieu Ahlersmeyer gönnt sich für Offenbach eine »Reise auf den Mond«. Karl Friedrich ist der »Reiter der Kaiserin« (von August Pepöck), Herta Talmar liegt als »Venus im Grünen« (Oscar Straus). Und Rudolf Christ sorgt in Lehárs »Mann mit den drei Frauen« für verantwortungslosen Leichtsinn im ernsten Fach. Meist sind es dialogisch aufgemischte, musikalisch authentische Neufassungen, die nie den ätzenden Synthetik-Glamour späterer Jahre versprühen. Angesichts der Fülle von unbekannten Titeln und Trouvaillen könnte man beinahe an Fälschung glauben. Doch es handelt sich um verblichene Herrlichkeiten, die bloß vergessen wurden.
Der Operetten-Tsunami ist direkte Folge der CD-Krise. Joachim Leufgen, Chef des Hamburger Archivs, war früher Product Manager bei Teldec (verantwortlich für die schöne »Legacy«-Reihe mit Aufnahmen von Joseph Schmidt, Erna Sack, Erich Kleiber u. a.). Nach der jammervollen Havarie der Teldec 2001 startete er mit seiner Abfindung neu. Den ursprünglichen Gründer des »Hamburger Archivs für Gesangskunst« konnte er beerben. Sein Printing-on-Demand-Verfahren fertigt jede CD eigens nach Bestellung. Ein Lager gibt es nicht.
Somit geringe Kosten. Das Garagen-
Label ernährt mittlerweile seinen Mann. Randvoll gepackt mit Extras und Bonus-Material, hat Leufgen im letzten Jahr etwa 40 (!) Operetten-Gesamtaufnahmen veröffentlicht. Die Vorlagen stammen von Privatsammlern, die sie in den Achziger- und Neunzigerjahren von den Rundfunkanstalten kauften. Er habe immer noch 40 bis 50 derartiger Titel auf Lager, darunter »Der Teufel auf Erden« von Franz von Suppé und Ralph Benatzkys »Meine Schwester und ich« mit Johannes Heesters.
Der Fetischisten-Ring, in dem diese Aufnahmen bislang zikulierten, wäre allein groß genug, um über die Homepage für Nachfrage zu sorgen. »Große Händler machen mir eher Schwierigkeiten«, so Leufgen. »Ich bin an kleinen Läden interessiert.« So tun sich im Schatten der Großfirmen lukrative und pittoreske Nischen auf. Samt eigener, regionaler Verbreitungswege. Dass die Produkte immer noch etwas handgemacht wirken, aber technisch einwandfrei, erhöht eher den Sammlerreiz. Die Krise, so sagen Kenner, zeigt sich im Fall der Klassik nicht etwa im Mangel, sondern an der Überfülle des Angebots. Stimmt. Und Kleinst-Firmen wie das »Hamburger Archiv für Gesangskunst« – wo auch zahllose Recitals von Sängerlegenden wie Tiana Lemnitz, Marcel Cordes und Leonie Rysanek erschienen sind – ist eine der schönsten Sumpfblüten dieser Entwicklung. Unbedingt ansehen!

Robert Fraunholzer, 08.02.2014, RONDO Ausgabe 2 / 2010



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