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Eine solche Reihe von Ausgrabungen aus den Rundfunkarchiven mag die Erwartungen schüren, hier könnte man die junge Martha Argerich noch »entfesselter« oder »vulkanischer« erleben als in einigen ihrer wahrlich superlativischen frühen Studioaufnahmen. All diese abgenutzten eruptiven Adjektive scheinen indes in jenem Maße angeschwollen zu sein, in dem sich die lebendige Erinnerung an ihre Soloauftritte verloren hat. Heinz Wildhagen, der im Januar 1967 – ein paar Wochen vor dem hier erstmals zu hörenden Berliner Livemitschnitt – Chopins dritte Sonate mit der Argerich aufnahm, erinnert sich noch heute an ihre völlige Unbefangenheit in der Studiosituation: »Sie kam und spielte los.« Lähmende Skrupel, vor dem Mikrofon der Nachwelt Rechenschaft ablegen zu müssen, hatte sie nicht. Und so ergibt der Vergleich von Studioergebnis und dem Konzertdokument ein etwas paradoxes Bild: Vor dem Mikrofon agierte sie stellenweise wilder und freier als auf dem Podium. Mag sie diese rauschhafte Verflüssigung im Konzertsaal auch nicht an die Grenzen getrieben haben, die gleiche leise Skepsis bleibt beim Hören dieser Liveversion der h-Moll-Sonate. So überläuft sie atemlos all die Zäsuren thematischer Verwandlungen im Kopfsatz, dessen Belcanto die Atempausen fehlen und das zarte Innehalten. Auch die motorische Überhitzung des Finales, das schon im zweiten Themendurchgang alle Steigerungsmöglichkeiten aufgezehrt zu haben scheint, zeigt die interpretatorischen Grenzen einer manuell grenzenlos Begabten.
In den lyrischen Kleinformen kommt ihre Neigung, der Bewegungsenergie die anderen musikalischen Parameter zu opfern, zu glücklichem Stillstand. Hört man diese Rundfunkfassungen einiger Mazurken, entpuppt sich die oft kolportierte Unstetigkeit der jungen Pianistin als Mythos. Nur in winzigen Nuancen weichen sie von den bekannten DG-Aufnahmen ab, köstliche Funde für die Mandarine des Interpretationsvergleichs, die aber kein impulsives »Anders-machen-wollen« enthüllen, sondern Nachdenklichkeit. Insgesamt wirken sie einen Hauch zurückgenommener, behutsamer ausgehorcht. So gerät der Schluss der Mazurka As- Dur op. 59/2 mit seinem für den späten Chopin so typischen chromatischen »Sich-festbeißen« weniger rhetorisch aufgeplustert als in der Studioversion. Auch bei der Mazurka a-Moll op. 59/1 wirkt die Radioproduktion einen Hauch subtiler als die Studioversion. Zweimal tritt hier das Thema in der linken Hand ein, kontrapunktisch raffiniert eingeflochten. Nicht selten werden solche Momente belehrend herausgestellt, um dem Publikum die eigene Interpretenfindigkeit zu beweisen und nebenbei nicht ohne Herablassung zu demonstrieren, dass Chopin derlei »konnte«. Martha Argerich artikulierte diese Themeneinsätze im WDR zarter und nachdenklicher, mit kleineren Gesten als im DG-Studio, und selbst da besonnener als mancher Kollege. So berichtigen diese aufnahmetechnisch wunderbaren Dokumente das mythisch überfirniste Bild der launenhaften Instinktspielerin. Wir begegnen einem souveränen Künstlertum, das bei allen Hexenkünsten von sensiblem Bescheiden gebändigt wird.
Matthias Kornemann, 15.02.2014, RONDO Ausgabe 1 / 2010
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